Es gab den geplanten Crewwechsel. Männi ging und Ronny kam. Er ist Arzt in Berlin, wir reisen jetzt sogar mit medizinischer Begleitung.

Am frühen Abend querten wir die Mündung der Maas, das Fahrwasser Rotterdams, diese von riesenhaften Deichen geschützte Festung des Welthandels. Wie an der Perlenschnur rauschen Tanker, Frachtschiffe, Fähren und Baggerfahrzeuge ein und aus, und über allem wacht Maas Entrance, die Verkehrsaufsicht. Von dort funkt man mit einer erstaunlichen Höflichkeit: „Good afternoon Imperia, please keep your speed and course and stand by on channel 3!”, „Sailing Yacht Imperia, could you now change your course a little bit to starboard?“, „Good bye Sir – have a safe passage!“.

Um danach weiter gen London zu kommen sah mein Plan vor, südlich des Rotterdam betreffenden Verkehrs nach Westen zu segeln; ich hatte auf einer  fast aktuellen britischen ­Papierseekarte eine blaue Linie als dafür vorgeschlagene Yacht-Route nach England entdeckt. Zwar führte diese auch durch ein Gebiet, wo nun Windparks liegen, aber dazwischen gibt es, laut einer elektronischen Karte, noch immer eine Lücke. Diese war fast zwei Meilen breit, dort müssten wir doch eigentlich hindurch passen. Ich wollte unbedingt vermeiden noch weiter nach Süden zu kommen, in die Hölle des Fahrtenseglers: Die Verkehrswege von Antwerpen, Vlissingen, Zeebrügge und das sie umgebende seichte, trübe und zu schnell strömende Nordseewasser.

Ich war allein an Deck, der Rest der Crew schien zu schlafen. Etwa eine Stunde vor Mitternacht konnte ich die 30 Meilen vor der Küste im Gleichtakt  rot blinkenden Windräder sehen. Seit einiger Zeit war vor dem Windpark noch ein helles, weißes Licht dazu gekommen, das sich nicht veränderte und das ich nicht zuordnen konnte, da unser AIS seit Amsterdam keine «Gegner» mehr anzeigte. Dann knisterte und rauschte es im Funk. Der Spruch klang nach Darth Vader:

„Sailing Vessels on position 51 degrees 40 minutes North and 002 degrees 56 minutes East: This is Guard Vessel Assessor, you are entering a restricted area!!“.

Ich entgegnete, dass ich nur durch die vorhandene Lücke im Windpark segeln wollte, ohne jemanden zu behindern. Assessor ging aber mit keinem Wort darauf ein und wiederholte seine Ansage nur, in noch schärferem Ton. Es  rauschte und knackte. Ich blieb ebenso stur und hielt Kurs. Assesor funkte nun: „Sailing Vessel, turn away!!“. Kurz darauf schaltete sich auch noch ein „Traffic Center“ ein, das mich ebenfalls aufforderte zu verschwinden.

Ich gab auf. Schweren Herzens änderte ich den Kurs nach Südost, um den  fünfzehn Meilen breiten Windpark zu umfahren. Ein Riesenumweg. Blieb nur zu hoffen, dass sich in dem daran anschließenden Militärgebiet gerade keine Übung abspielte.

Großschifffahrtsrouten, Ölbohrinseln, Militärgebiete, Windkraft. Es wird immer schlimmer. Ich hab ja nichts gegen Windkraft, aber Barrieren von fünfzehn Meilen, durch die man nicht mehr durchkommt? Das lässt mich von Zeiten träumen, als man die Nordsee noch frei befahren konnte, wie die Freibeuter.

Großer Poseidon, lass diese Zeiten wiederkommen und Ölbohrplattformen, Containerschiffe und VTG-Fahrwassertonnen irgendwo verotten! Denn wenn es so weiter geht, gibt es ja bald nur noch Korridore. Aber wie will man in solchen denn bitte noch segeln?

Irgendwie schafften wir es bis zum Morgen zur Themsemündung. Ich war daran bisher immer vorüber gesegelt, und auch diesmal habe ich es wieder versucht, indem ich Guido, den Eigner und Skipper der Imperia, beiläufig darauf hinwies, dass man Brighton ja auch „London by the Sea“ nenne, und wir – unter Verzicht auf London – zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten: Nämlich: Fast nach London zu kommen und unserem Ziel Lissabon ein gutes Stück näher. Guido ist aber nicht der Typ, der sich durch praktische Ratschläge von lange gehegten Vorhaben abbringen lässt, das ist mir da klar geworden.

Und so fuhren wir am strahlend blauen Morgen der Prinzenhochzeit – Harry heiratete Meghan auf Schloss Windsor – durch den Princes Channel.

Im Süden war die hohe Küste der Grafschaft Kent mit den South Downs zu sehen. Im Norden, wo East Anglia liegen musste, konnte man zwischen Land und See noch keinen Unterschied ausmachen. Wie durch einen riesigen Trichter schob und zog uns die Flut auf die 50 Meilen entfernte Metropole zu. Ich hatte keine Ahnung, ob die Dauer der Tide ausreichen würde, um ganz bis in das Herz der Stadt zu gelangen, oder ob wir vorher irgendwo würden festmachen müssen.

Bei Shivering Sands erreichten wir das Hauptfahrwasser, wo vereinzelte Containerschiffe unterwegs waren. Drei Segelyachten querten nach Süden in einen Seitenarm, der die Halbinsel Medway abteilte. Laut Karte lag dort drinnen ein Flusshäfchen namens Queenborough, wo Yachten, die nach London wollen, abwarteten können, bis sie das haben, was die Engländer eine „fair tide“ nennen.

Die Ufer kamen näher, zunächst als dunstige Streifen mit davor liegenden Watten, dann konnte man Orte erkennen. South-End-On-Sea, Leigh-On-Sea oder Cavey. Schließlich wurde aus der Wasserwüste eine Flusslandschaft in den Marschen, ähnlich der Unterelbe. Ab Holehaven, wo Containerschiffe beladen wurden, waren die Ufer nur noch ein paar Kabellängen voneinander entfernt.

Unser Ratgeber an Bord war ein zwei Jahre alter Reeds Nautical Almanach, den ich hin und her wälzte, um herauszukriegen, wo wir die Nacht verbringen konnten. Schon in Amsterdam hatte ein Marinero auf meine Frage hin, ob London mit einer Yacht gut machbar wäre, geantwortet: „Normalerweise schon, aber mit der königlichen Hochzeit – das könnte schwierig werden…!“. Und so kam es dann auch: Ich telefonierte sämtliche Marinas durch: Saint Katharines Haven, Limehouse, Poplar Docks, Gallions Point, South Dock Marina – es gibt ja nur eine Hand voll. Stets erhielt ich die gleiche Antwort: „Sorry, we are full – Sir, you know…the Royal Wedding…!“

Ich fand im Reeds auch noch die Telefonnummer eines River-Service, der für im Fluss liegende Mooring-Tonnen und sonstige Anleger zuständig war. Dort meldete sich der mir unbekannte Steve, der zwar ein offenes Ohr für uns hatte, aber keinen Liegeplatz. Als er mitbekam, dass wir trotz fehlender Reservierung weiter auf London zuhielten, wirkte er besorgt. Und als er hörte, dass wir South-End-On-Sea erst kürzlich passiert hatten, noch besorgter.

„Da seid ihr erst! Guter Gott, da kommt ihr mit der Flut ja gar nicht bis nach London rein! Da wird Euch der Ebbstrom ja vorher ausbremsen. Vielleicht schafft ihr es ja noch bis Gravesend… ja, geht am besten nach Gravesend!“

Als wir ein halbe Stunde später an Gravesend vorbeifuhren, wo ein paar Mooring-Tonnen lagen, zeigte Guido kein Interesse daran Steves Rat anzunehmen.

„Wir werden schon etwas finden in der Stadt“, sagte er unbeirrt.

Ich war nervös, denn im Reeds stand, dass sämtliche Häfen in der City of London nur um Hochwasser herum ihre Schleusen öffnen. Schon eineinhalb Stunden danach ist alles wieder zu, weil die Zugänge bei Ebbe trocken fallen. Es ließ sich ausrechnen, dass wir zu spät eintreffem würden. Wohin also mit dem 50 Fuß Schiff mit fast 2 ½ Meter Tiefgang? Der Gedanke, mit einer Yacht in einem uneinladenden Revier heimatlos zu sein stresst mich irgendwie. Habe ich vielleicht schon zu oft erlebt: Zum Beispiel weil ein Hafen voll ist, oder weil man zu viel Tiefgang hat, oder weil die Ansteuerung bei Welle über ein Flach zu riskant ist und man draußen bleiben muß. Hier war ich zwar nur der angeheuerte Lotse und nicht verantwortlich, aber ich saß auch im selben Boot. Guido in seiner nassforschen, badischen Art blieb entspannt und der Gashebel zeigte noch immer nach vorn, auf das Zentrum von London zu.

Bei sinkender Sonne unterfuhren wir die Queen Elisabeth II-Brücke, kamen am Coldharbour Point vorbei, den Rainham Marshes, auch an einigen Ankerplätzen und Mooringbojen, an denen kleinere Yachten hingen, und an denen ich vielleicht festgemacht hätte. Aber wir fuhren vorbei; auf einem Schiff kann nur einer das Sagen haben, und dieser hatte entschieden, dass wir es drauf ankommen lassen würden. 

Am Abend kamen wir an die Thamse Barrier, das Sperrwerk, das London im Bedarfsfall vor den Nordseefluten schützen soll. Die Träger sehen aus wie riesige, spanische Ritterhelme. Um es zu durchfahren, muss man sich über Funk bei London V(essel)T(raffic)S(ervice) anmelden und bekommt dann ein Span zugeteilt. Da die Liegeplatzfrage noch immer offen war und es schon dämmerte, schoben wir unserer Anmeldung hinterher, dass wir nicht wüssten, wo wir bleiben könnten – sämtliche Marinas wären voll. London VTS bat sich eine kurze Bedenkzeit aus, dann funkten sie zurück, dass sie uns leider nur eine Mooringtonne anbieten können, östlich des alten Whoolwhich-Ferry-North Pier, etwa eine Meile stromabwärts.

Wir machten uns auf den Weg und fanden bald eine riesige, gelbe Stahltonne, die im reißenden Ebbstrom pendelte. Nach dem dritten Versuch, bekamen wir eine Leine über eine Klampe geworfen und hingen nun im Strom. Keine schöne Aussicht für die Nacht. Was würde eigentlich passieren, wenn die Tide kenterte, werden wir die Tonne dann rammen? Guido sorgte sich um sein Schiff. Ich maulte, dass wir ja längst irgendwo hätten ankern können. Wir riefen London VTS erneut an und schilderten unsere Bedenken. Nach kurzer Pause kamen sie mit dem Vorschlag, dass wir an einer nahen Schute festmachen können, die an einem ausgemusterten Ausflugsdampfer hängt.

So verbrachten wir die Nacht mit doppelten Leinen längsseits der Schute. Aufgrund des vorbei gurgelnden Wassers wachte ich nachts mal auf, aber wir lagen ganz gut. Der Punkt ging an den Eigner, der es hatte drauf ankommen lassen.

Am nächsten Morgen warfen wir noch vor Sonnenaufgang die Leinen los, um das Hochwasser zum Einlaufen nicht zu verpassen. Wir machten uns auf die letzten sechs Meilen hinauf zur Tower Bridge. Kein anderes Schiff war auf dem Fluß unterwegs, auch am Ufer war kein Mensch zu sehen; die gesamte Stadt schien den Rausch der Prinzen-Hochzeit auszuschlafen.

Wir umrundeten die Isle of Dogs, auf der die Türme des Bankenviertel funkelten, als seien sie aus purem Gold. Dann eine Batterie alter Werften: Paynes, Convoys, Roses, Fergusons, Brown Winkleys, Snowdens, Atlas und natürlich die legendäre Gibsy Moth IV, ein Rahsegler aus der großen Zeit des British Empire.

Endlich erreichten wir die Tower Bridge. Das altehrwürdige St. Katharina Dock gab uns grünes Licht. Man war bereit uns zu schleusen.

60 Meilen nördlich von A Coruna, an der Kante zum Kontinentalschelf

Meine neunte Biskaya-Überquerung in drei Jahren. So oft war ich in dieser Zeit nicht auf der Alster unterwegs. Wir haben die Strecke ja bald hinter uns. Voraussichtlich muss man sagen – man weiß ja nie.

Vor einer Woche haben wir in London die Leinen losgeworfen, nachdem wir einen Tag in der Stadt verbrachten. Was ist seitdem passiert?  Mit Hilfe des Ebbstroms sind wir das lange Ende aus der Themse wieder heraus gekommen, dann an Dover vorbei gesegelt und quer über den Ärmelkanal nach Cherbourg. Dort haben wir in Rekordzeit (2 Tage) die Rollreffanlage tauschen lassen, nachdem sie wieder Ärger machte. Wir sind weiter nach Westen vorgedrungen und waren für eine Nacht in Brest, wo ich rein zufällig ein Metal-Konzert der Gruppe Shadyon gesehen habe, weil ich – wie immer in Brest – auf einen Drink im legendären Hotel Vauban einkehrte. Und sonst? Es sind beinahe 2 Tage vergangen seit dem Verlassen der Iroise See. Die Biskaya war überwiegend schwachwindig. Phasenweise sind wir gut gesegelt. Wie immer bei längeren Strecken, wenn die Maschine öfter läuft, zieht es sich nun etwas. Klar, man kann froh sein, wenn man hier heil durchkommt, aber segeln ist doch etwas anderes. Je mehr Jahre ich auf dem Wasser bin, desto höher steigt meine Achtung vor Seeleuten aus vergangenen Zeiten, die keinen Motor hatten, keine Elektronik, keine genauen Seekarten, keinen Seewetterbericht. Oft lagen sie in der Flaute, oder segelten mit ein, zwei Knoten. Da wird sich die Zeit auch gedehnt haben. So viele Männer auf engem Raum. Und wenn in der Biskaya dann Südwestwind aufkam, konnte man sich überlegen, was man daraus machte. Zurück in den Englischen Kanal oder tapfer versuchen, die Höhe zu halten. Das ist auf einem Rahsegler ja nicht so leicht, weswegen diese Versuche manchmal scheiterten und den Schreckens-Mythos dieser Bucht begründet haben.

Auf Langfahrt hat man heute doch meist eher menschliche Klippen zu umschiffen. Oder Flachs. Ist nicht immer leicht, auf engstem Raum, tagelang. Jeder ist anders, da braucht es Toleranz, sonst bauen sich Spannungen auf. Es ist gut, wenn man weiß, wie man diese wieder abbaut. Muss ja auch nicht zu harmonisch sein, ist ja kein Streichelzoo. Gut ist auf jeden Fall, wenn man sich irgendwie zurückziehen und selbst beschäftigen kann. Wenn man was dabei hat, womit man sich die Zeit vertreibt. Thomas schneidet Videoclips auf dem Ipad, da ist ein richtiger Nebenjob; von jedem Abschnitt der Reise soll es einen geben. Guido schreibt sein Tagebuch und seinen Blog. Außerdem hält er sein Boot in Schuss, da liegt immer was an. Und Ronny, unser Schiffsarzt, genießt ganz ungeniert, dass er mal Zeit hat, die Seele baumeln zu lassen. Ich laß die Seele auch mal baumeln, lese, oder schreibe das hier auf, damit ihr Landratten wißt, was einem hier draußen durch den Kopf geht.

 

Wie war das? Endlich Land in Sicht!