16. Juni 2018. Ijmuiden aan Zee, Holland
Schon eineinhalb Tage nach Cuxhaven, auf der Höhe von Den Helder, setzte der Südwestwind kräftig ein. Als der Strom dagegen lief wurde die See ruppiger. Die Amara machte einen Bockssprung nach dem anderen, teilte die Wellen mit harten Schlägen. Ich war erleichtert, als die Eigner sich das nicht länger anhören konnten: Sie wollten nun doch nicht bis in den Ärmelkanal fahren, sondern in Holland einlaufen. Es war ihre Entscheidung. Zwar war ich hier zum Kapitän ernannt worden, aber wenn es nicht gerade gefährlich wird, überlasse ich solche Entscheidungen meinen Auftraggebern, es ist ja ihre Yacht.
Es war grau und regnerisch, typisches Nordseewetter. Durch den Dunst war schon das Stahlwerk zu sehen. Aus den Schloten quoll Rauch, der in einer waagerechten Linie abzog. Eine andere Yacht, keine Meile entfernt, mühte sich wie wir gegen den Wind, man sah ihren Rumpf immer wieder hochspringen.
Eine Stunde später nahmen uns die Molen des Vorhafens auf wie ein riesiges Maul, das uns vor der See beschützen wollte. Ein Frachter, ein Schlepper und ein Kreuzfahrtschiff liefen noch vor uns durch, dann konnten wir hinter den Mauern der Seaport Marina in Ijmuiden festmachen.
Der Blick auf die Wetterkarte gab uns Gewissheit: Zuviel Südwest. Wir würden hier zwei Tage hängen, mindestens. Einerseits war ich erleichtert, dass wir nun nicht auf der Nordsee gegen Dreimeterwellen anrammen mussten, andererseits weckt Ijmuiden aan Zee in mir immer Fluchtinstinkte. Es ist so trostlos hier… Woran es liegt kann ich nicht sagen. Vielleicht am Wind? Zumindest bläst der Südwest immer, wenn ich hier bin, sonst gäbe es ja auch keinen Grund anzuhalten. Er fegt über den Strand und die Dünen und nimmt den feinen Nordseesand mit. Hinter den verwitternden Pavillons findet man kaum einen geschützten Ort, und es ist niemals still: Immer heult es durch die Riggs unzähliger Yachten, lässt einige Fallen höher, andere tiefer schlagen, eine irre Trommelgruppe. Obwohl man gerade an solchen Orten Zuspruch braucht, ist er dort schwer zu bekommen: Man kann nirgendwo telefonieren; es rauscht am Hörer und man versteht nichts und man wird auch nicht verstanden.
Mich fröstelte es. Ich nahm mir vor, es diesmal anders anzugehen, ein neuer Anfang. Immerhin ist diese Marina der einzige Yachthafen Amsterdams, der direkt an der See liegt. Er beherbergt eine ganze Flotte sehenswerter Schiffe, und mir liegen doch Häfen und Schiffe – und Menschen, die mit ihnen fahren.
Schon am nächsten Morgen wollte ich nur noch weg. Die Vorstellung einen ganzen Tag in dieser Einöde zu verbringen war doch zu erdrückend. Was ließ sich hier auch tun? An Bord ist es naturgemäß eng, und alle Orte, an denen man sich sonst aufhalten konnte – das Hotel in der Marina oder eine der Strandbuden, sind überteuert oder windig.
Ich teilte der Crew meinen Entschluss mit, nach Amsterdam zu fahren. Niemand wollte mich begleiten. Kein Problem, zum Glück gibt es einen Bus, der einen bis Sloterdijk bringt. Von dort ist man per IC in zehn Minuten in der Stadt.
Als mich Amsterdam Centraal ausspuckte, hatte ich den festen Vorsatz mal wieder das Rijksmuseum zu besuchen, doch wo befand es sich noch?
An einer Bude, vor der Touristen zu einer Grachtenfahrt anstanden, hing ein Stadtplan. Sehenswürdigkeiten waren darauf mit Bildchen markiert. Ich fand das Rijksmuseum im Süden der Altstadt, darüber fiel mir aber noch das Bild eines anderen Gebäudes auf: Heet Scheepvaartmuseum – zu Fuß keine Viertelstunde entfernt.
Das nationale niederländische Schifffahrtsmuseum ist ein festungsartiger Bau mit dicken Mauern und vier Flügeln. In der Mitte liegt ein Innenhof, der mit Glas überzogen ist wie ein riesiges Gewächshaus ohne Pflanzen. Ich hatte geahnt, dass dieses Museum in Holland kein Nebenschauplatz sein würde, dazu sind Schiffe hier zu wichtig. Doch so einen Ort hatte ich nicht erwartet: Es war dort hell und einladend wie in der Lobby einer Computerfirma. Und man wurde äußerst höflich begrüßt, als ob es sich nicht um alte Kähne, sondern um den Zugang zu einem Staatsgeheimnis handelte.
Ich betrat einen Raum voller gespensterhaft beleuchteter Gallionsfiguren. Überbleibsel vergangener Schiffe, in ungewollter Nähe zueinander vereint. Eine stumme Schar, den Blick, wie es sich für eine Gallionsfigur gehört, auf das unabänderliche Schicksal gerichtet.
Ein anderer Raum unter künstlichen, funkelnden Sternen zeigte alte Navigationsinstrumente: Peilscheiben, Oktanten, Sextanten, Kompasse, Fernrohre, Lote, Loggen. Werkzeuge der Entdecker, präsentiert wie Reliquien.
Der dritte Raum widmete sich der Geschichte der Yachten, von der ersten, noch militärisch genutzten Jagt zur Piratenverfolgung im 16. Jahrhundert, bis zu heutigen Racern mit Schwenkkielen. 80 Modelle in einer riesigen Vitrine über- unter- und nebeneinander. Eine zeitlose Flotte, die durch den Weltraum segelt, die ältesten Schiffe zuerst.
Auch im Raum der Atlanten war Dämmerlicht. Hier wurden Jahrtausende alte Karten im Original ausgestellt. Die ältesten auf Pergament, gezeichnet nach den Vorstellungen von Ptolemäus. Es ließ sich erkennen, welche Teile der Welt noch gar nicht entdeckt waren: Amerika fehlte, Afrika war eine Insel, die nur aus dem Norden bestand. Überall in die Karten waren Zeichnungen eingefügt: Schiffe, Städte, Fische, Winde. Von diesen naiv anmutenden Karten der Welt ging es weiter zu den feineren, bereits kolorierten des Mittelalters, und noch weiter zu solchen, die sich in ledergebunden Atlanten des 17. Jahrhunderts befanden, zum Beispiel aus der Werkstatt des Herrn Blaeuw aus Amstelredam, seines Zeichens Kartenmaler. Ihm hatten Seeleute von fernen Küsten erzählt. Er erfasste die Welt immer genauer. Die dicken Bände waren an Adelshäusern beliebt. Man wollte etwas über die Welt erfahren und sie be-fahren. Die Holländer zog es in den Fernen Osten, doch ihnen fehlte noch das Wissen darüber. Die Portugiesen hatten dieses Wissen bereits, weswegen aus Amsterdam sogar Spionagetrupps nach Lissabon entsandt wurden.
Es waren auch lokale Karten zu sehen. Amsterdam liegt an der Ij, das ist der heute eingedeichte Wasserarm, der von der Zuidersee – dem heutigen Ijsselmeer – an Amsterdam vorbei nach Süden reicht, bis hinein nach Haarlem. Wenn die Amsterdamer in See stechen wollten, mussten sie erst den Weg durch die Zuidersee nehmen, um dann außen rum bei Texel die Nordsee zu erreichen.
Amsterdam – heute der viertgrößte Hafen Europas – hatte eben keinen direkten Zugang zur Nordsee. Erst im 19. Jahrhundert wurde damit begonnen ihn auszuheben. Englische Arbeiter haben ihn gegraben. Wenn man die heutigen Dimensionen des Noordzeekanals sieht, mit der größten Schleuse der Welt und dem Industriehafen Ijmuiden kann man es kaum glauben, aber auf den mittelalterlichen Karten ist es noch zu erkennen: Zwischen Nordsee und der südlichen IJ war früher ein Kaff namens Beuernryck, das eine Kirche besaß. Südlich davon war nichts als Sand und Dünen.
Am nächsten Tag lief ich durch die Marina und wusste mal wieder nicht, wohin mit mir. Der Wind heulte, die Fallen klapperten, der Sand flog einem ins Gesicht. Der Sand war doch nichts anderes als der Versuch der Natur, sich den Ort zurückzuholen. Ich sah einem Tanker auslaufen. Der Mensch hat diesen Hafen geschaffen, ihn ausgegraben, bepoldert, geflutet, in ihrer ursprünglichen Form war die Landschaft nicht mehr zu erkennen.
Am nächsten Tag liefen auch wir aus. Als wir im Vorhafen das Großsegel setzen wollten, kam uns ein riesiger Saugbagger in die Quere. Wir gaben ihm Raum, aber er fuhr nicht an uns vorbei, beschleunigte nicht. Warum er ewig brauchte, bis er endlich verschwand, wir wussten es nicht. Vielleicht hatte er einfach zu viel Sand im Schiffsbauch. Zuviel Sand, den er aus einem Hafen gesaugt hatte, um ihn in der Nordsee zu verklappen, und der bald von Tide und Wind zurückgetragen werden würde.
Endlich stand unser Großsegel und wir konnten abfallen. Ich drehte mich um. Die Silhouetten des Stahlwerks, die Kräne, die Bohrtürme in den Docks. Ich atmete auf, dass ich diesem so unwirtlichen Ort entkommen war. Irgendwann werden dort sicher wieder Sand und Dünen sein.