Yachtüberführung im Spätherbst: England (Essex Marina) nach Holland (Flevo Marina Ijsselmeer) von Thomas Götzen
Die letzte Überführung des Jahres 2020 war in vielerlei Hinsicht eine Besondere für uns. Das Tidenrevier Nordsee während der Herbststürme zu queren ist ja an sich schon eine interessante Aufgabe, aber durch den tickenden Brexit-Countdown und die zusätzlichen Unsicherheiten der sich ständig ändernden Corona-Lagen, dazu noch in unterschiedlichen Ländern Europas, wurde es zu einer Herausforderung der besonderen Art. Überraschungen inklusive.
Aber der Reihe nach: Ende Oktober 2020 bekamen wir einen Anruf: Ein deutscher Yachtkäufer stand kurz vor dem Abschluss seiner Verkaufsverhandlungen mit einem Broker der Essex Marina, nahe London, und suchte kurzfristig revierkundige Begleitung für die Überfahrt seiner Nauticat 37 nach Deutschland. Er selbst und 2 Bekannte sollten mit dabei sein. Wir besprachen die Sache und waren uns schnell einig. Mögliche Routen wurden von Yachtskipper.de erstellt und die Wetterplanung startete bereits, als die Nachricht eintraf, dass die Crew des Kunden nicht mehr zur Verfügung stand.
Ok, wir haben ein Netzwerk erfahrener Segler und waren optimistisch, auch im Spätherbst der Zeit eine erfahrene Crew stellen zu können. Nach 2 Tagen konnten wir diese auch präsentieren: Nikolaus und Michael würden mich als Skipper begleiten. Weiter ging es mit der Planung. Am Folgetag erreichte uns die nächste Überraschung: Unser Kunde und Neueigner in Spe teilte uns mit, dass er als Arzt, wegen aktueller Coronaschutzvorgaben nicht mehr mit nach England reisen könne.
Normalerweise wäre das kein größeres Problem – die meisten unserer Überführungen finden ohne Eigner statt. Aber die Übernahme einer Yacht nach dem Kauf, einschließlich Prüfung sämtlicher Papiere, der Begutachtung aller Systeme, des Rumpfes, des stehenden und laufenden Gutes, ist doch etwas anderes als eine Törnbegleitung.
Zusammen mit dem Kunden starteten wir die Planung der Übernahme, studierten das umfangreiche Gutachten, erstellten Checklisten, telefonierten mit dem Broker und dem alten Eigner in England. Parallel bereiteten der Notar und Anwalt die Übergabe vor.
Alle Parteien waren willens den Kauf, die Übernahme und Überführung noch vor dem Brexit über die Bühne zu bringen. Und so räumten wir innerhalb weniger Tage alle Probleme aus der Welt und waren bereit nach Essex zu fliegen. Doch nun hatte sich das Wetterfenster geschlossen, und die Brexituhr tickte weiter…
Ein Hurrikan vor der US-Küste hatte sich auf den Weg nach Europa gemacht. Er erreichte Irland als ausgewachsener Herbstturm mit Böen um die 50 Knoten. Ihm folgten weitere Tiefs wie an der Perlenschnur. Täglich gab es ein telefonisches Wetterbriefing und nach 10 endlosen Tagen fanden wir endlich die Lücke.
Am 24.November 2020 morgens um 06:00 standen wir am Flughafen Düsseldorf und füllten schlaftrunken Corona-Formulare der englischen Gesundheitsbehörde aus, auf eine problemlose Einreise hoffend. 3 Stunden später war es beinahe geschafft: Wir standen am Gepäckband in London-Heathrow. Gegen Mittag erreichten wir die Essex Marina am River Crouch.
Victor, der bisherige Eigner war ein achtzigjähriger Gentleman & Sailor wie aus dem Bilderbuch. Er bereitete uns einen herzlichen Empfang. Es folgte ein Marathon der Checklisten. Irgendwann hatten wir jeden Bilgendeckel hochgehoben, den Masttop mit dem Bootsmannsstuhl erklommen, die Maschine geprüft und endlich in der Checkliste den letzten Haken gesetzt. Nun startete für mich der zweite Marathon – der Papierkrieg.
Ich saß bei Dillen, dem Broker, im Büro an einem großen englischen Schreibtisch, darauf Unmengen von Papieren. Per Telefon zugeschaltet: Unser Kunde mit seinem Rechtsbeistand.
Es galt die Papiere zu begutachten und auf Vollständigkeit zu prüfen. Dillen war ob der deutschen Gründlichkeit „not amused“. Ich versuchte ihn ein wenig aufzulockern. Nach 3 Stunden und dutzenden verschickten Fotos waren wir am Ende. Alles in Ordnung.
Außentemperatur 6° Celsius. An Bord lief die Heizung. Nikolaus und Michael hatten aufgeklart und auf dem Herd kochte ein leckeres Süppchen.
Es war ein langer Tag und wir wollten am nächsten Morgen früh mit ablaufendem Wasser die Marina verlassen. Ein letzter Wettercheck und schon waren wir in den Kojen verschwunden.
Als wir den Motor starteten und ablegten hing der Nebel in Fetzen über dem Crouch River. Der Wind schlief noch, aber das ablaufende Wasser half uns mit 3 Knoten Strom Richtung Whitaker Channel. Der restliche Nebel hat sich später auch verzogen. Wir genossen den Morgen allein auf dem Fluss, nur eine Robbe schaute uns hinterher. Nach einer Stunde erreichten wir bereits „Foulness Sand“ der Beginn des umfangreichen Thames River Deltas – der Themse. Es folgten Whitaker- u. Kings Channel, bis wir ein paar Stunden und nach 33 Meilen später vor dem ersten navigatorischen Highlight unserer Überführung standen:
Der Wegpunkt 21 – Gefahrentonne Trinity – war der Start in den „Kreisverkehr» der sich um das Feuerschiff „Sunk Centre“ dreht.
Tatsächlich kreist man dort wie in einem Kreisverkehr gegen den Uhrzeigersinn…
Unsere Ausfahrt war die Safe Water Buoy „Sunk E2“ am Rande des Traffic Separation Scheme – unser Kurs 65° Nordost.
Mit unserem WP (Waypoint) 28/Tonne Sunk E verließen wir das schützende TSS (Verkehrstrennungsgebiet) und es begann für uns der anspruchsvollste und gefährlichste Teil der Überführung. Ganz ohne TSS, welches den Verkehr regelt, in Bahnen zwingt und die Richtung und Vorfahrt bestimmt, treffen hier innerhalb der nächsten 50 Seemeilen mehrere der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der nördlichen Hemisphäre aufeinander. Kein optimaler Ort für eine 37 Fuss Yacht ohne aktives AIS.
Als es dunkel wurde musste das Radar daher auch Höchstleistungen erbringen. Ständig hatten wir die maximale Anzahl an Zielen, die wir als MARPA Plot markierten, um auch ohne AIS Daten wie CPA und TCPA zu erhalten. Nikolaus blieb mit mir auf Wache und Michael musste sich in die Koje legen. Wir waren hochkonzentriert und angespannt. Jetzt war keine Zeit für Fehler. Theoretisch galten hier die KVR (Anmerkung der Red. :Kollisionsverhütungsregeln), doch darauf wollten – und wie sich später zeigte – durften wir nicht zählen.
Wir hatten uns auf diesen Teil der Strecke vorbereitet. Eine große Hilfe um den Traffic und die Kurse der Routen ohne TSS vorauszuplanen, bietet Marinetraffic.com mit seiner Funktion der „Dichtekarten“. Schaltet man diese Funktion zu, erscheinen alle Routen wie Furchen durch die Nordsee. Je tiefer, also je dunkler, diese Furchen sind desto mehr Schiffe fahren diese Kurse. Die Strecke vor unserem Bug war zerfurcht wie das Gesicht eines alten Seebären.
Es war Nacht, aber wir hatten ruhige See und gute Sicht. So schlängelten wir uns durch die Bahnen der großen Pötte, bis wir irgendwann umzingelt waren. Wir sahen von Backbord eines dieser dicken Ziele im Radar auf uns zu halten. CPA(Anmerkung der Re.: Closest Point of Approach): Null. Entfernung eine Seemeile. Stehende Peilung. Es war kein Raum für uns auszuweichen, ohne selbst auf Kollisionskurs zu anderen Schiffen zu geraten. Es blieb keine Zeit noch länger auf das Radarsignal zu starren, seine Positionslichter fixierten uns, Augen mit rotem und grünem Licht! Anscheinend war der Typ auf dem Brückendeck anderweitig beschäftigt und bedurfte einer Ansprache. Wir schickte eine Dringlichkeitsmeldung in den Äther. Nach einer gefühlten Ewigkeit und banger Erwartung drehte der Pott und sein grünes Positionslicht verschwand aus unserer Sicht. Erleichtert atmeten wir auf…
Stunden später Höhe WP 29 unserer Route und ohne weitere Zwischenfälle, änderten wir erneut den Kurs vor der Zufahrt zum Eurogeul (Rotterdam). Noch ca. 60sm bis zur Ansteuerung IJ-Geul, vor Ijmuiden.
Unser Kurs Richtung Amsterdam war gepflastert mit Bohrtürmen. 450 dieser Ungetüme sollen in der Nordsee ihr Unwesen treiben. Einige fackeln weithin sichtbar ihre überschüssigen Gase ab. Andere wirken wie überdimensionierte Flugzeugträger.
Langsam zeigte sich am Horizont die Dämmerung. Wir passierten die große Außenreede vor Ijmuiden. Soviel Schiffe vor Anker haben wir hier in den letzten Jahre nicht gesehen. Ob es die Folgen von Corona waren, konnten wir nicht sagen, aber es war schon ein trauriger Anblick diese Kreuzfahrtschiffe hier liegen zu sehen. Wir passierten die letzte Reede vor der Ansteuerung, hielten Kurs auf die Mole, meldeten uns bei der Schleuse Ijmuiden an, bekamen die südliche Schleuse zugewiesen und durften direkt einfahren. Die Holländer haben ein Herz für Segler. Wir freuten uns diesen Teil der Überführung gemeistert zu haben. Ich verschwand für 2 Stunden unter Deck und Nikolaus und Michael übernahmen die Wache. Ich schloss beruhigt die Augen; Nikolaus kennt die Strecke und die kreuzenden Fähren.
Die Freiwache verging wie im Flug und die Anmeldung bei der Marina Amsterdam verlief ohne Probleme. Unserer Bitte, per Überweisung zahlen zu dürfen, wurde stattgegeben. Als die Dämmerung einbrach waren die Leinen auf unserem Liegeplatz fest.
Der Abend war nicht aufregend – alle Restaurants wegen Corona-Auflagen geschlossen. Aber die Bordküche lief auf Hochtouren und wir klönten noch im Salon.
Der nächste Morgen empfing uns mit Regen. Um 08:00 Uhr warfen wir die Leinen los.
Die restliche Strecke belief sich nur noch auf 45 Meilen, 2 Schleusen und 1 Brücke.
Es ging durch die Innenstadt von Amsterdam Richtung unserer ersten Schleuse. Vorbei am Bahnhof mit den unzähligen Anlegern, wo die Fähren wie Bienen ums Nest schwirren.
Wir meldeten uns bei der Oranjesluis an und wenig später passieren wir das Tor. An der folgenden Schellingwoudebrug (Klapp-Brücke) müssen wir dann noch 10 Minuten warten. In der Rush Hour bleibt sie geschlossen.
Unsere letzte Etappe hatte begonnen und hielt noch eine unschöne Überraschung für uns bereit: Nebel zog auf!
Vor uns lag ein enges Fahrwasser durch das gesamte Markermeer und das im Nebel… Das hätte jetzt nicht unbedingt sein müssen. Ich telefonierte mit Rainer (Yachtskipper – Kontor) und beriet mich mit ihm. Rainer fand die Sache machbar, und nachdem meine Crew das auch so sah, fuhren wir weiter. Auch Ende November ist hier reger Betrieb durch die Binnenschifffahrt und so gingen wir zu dritt Nebelwache. Einer am Ruder, einer am Ausguck und einer am Radar. Der meldete alle Ziele mit Entfernung an die Brücke hoch. Der Ausguck versuchte sie früh genug zu erkennen und der Rudergänger hielt den Kurs am Rand des Fahrwassers, immer bereit auszuweichen! Die Sichtweite betrug 400 Meter. Wir hatten ein erprobtes, gutes Radar und durch mobilen Empfang auch zusätzlich Blick auf alle AIS Ziele um uns herum.
Nach 4 Stunden konzentrierter Nebelfahrt erreichten wir Lelystad und die Schleuse zum Ijsselmeer.
Wir durften direkt einfahren. Aufgrund des Nebels hatten wir unseren Plan, noch unterwegs klar Schiff zu machen, nicht umsetzen können, und so machten wir nun am Wartetsteg nach der Schleuse fest und putzen die komplette Yacht. Sie sah gepflegter aus als bei der Übernahme. Alles glänzte, die Seesäcke standen schon auf dem Oberdeck.
Noch eine Meile bis zur Marina. Der Nebel hatte sich gelichtet und wir machten die Yacht vor dem Hauptgebäude fest. 20 Minuten später erschien auch der Eigner – was für ein Timing! Gemeinsam brachten wir die Nauticat noch zu ihrem endgültigen Liegeplatz und verabschiedeten uns nach einer ausführlichen Übergabe. Der Eigner war sichtlich zufrieden und auch wir freuten uns über den fast perfekten Törn.
Vielen Dank für den Auftrag!
Thomas Götzen / Yachtskipper.de