Von Rainer Holtorff
Gerade sind noch ein paar mildere Wochen mit Ostwinden verstrichen, aber Anfang Oktober, als wir zu dritt aufbrechen wollen, um einen werftneuen Trimaran von Flensburg zu den Kanaren zu bringen, versperren uns Herbststürme den Weg durch die Nordsee wie dicke, harte Bretter.
Wir warten und telefonieren – obwohl wir eine Deadline haben: Am 12. November muss das Schiff in Las Palmas sein; es ist für die Atlantic Rally for Cruisers angemeldet. Das ist noch mehr als einen Monat hin, das sollte doch machbar sein, oder? Mit jedem weiteren Tag des Wartens beginnt unser Zeitvorrat zu schrumpfen, und die Großwetterlage gibt noch immer keinen Grund zur Hoffnung.
Montag, 9. Oktober
Eine Woche später reise ich nach Flensburg, mache mich mit dem schweizer Eigner bekannt und gehe an Bord des Trimarans, der eingeklappt in der Förde liegt. Martin hatte ihn erst im Juni bei der Quorning-Werft in Auftrag gegeben, ihn dann Mitte September abgeholt und seither in Betrieb genommen. Man stelle sich das nicht so einfach vor wie bei einem Auto. Eine Yacht wird individueller ausgestattet und eingerichtet. Besonders wenn man Dinge wie ein Kurzwellengerät, einen Hydrogenerator, einen Wassermacher, Solarzellen und ein Radar verbaut.
Ich werfe meine Sachen in die Kriechkoje achtern hinter dem Niedergang und sehe mich um: Nicht viel Platz: Ein schmaler Mittelgang, backbords die Pantry, steuerbords der Salontisch, der sich zur Koje umbauen lässt. Am Bug, durch das Bad erreichbar, die enge Vorschiffskabine.
Wir drehen eine Einführungsrunde an Deck. Ich war schon mit schnellen Katamaranen unterwegs, doch nie mit einem Tri. Ich sah solche meist nur auf Bootsmessen, wo sie von Besuchern umringt sind wie exotische Tiere. Martin scheint es nicht zu stören. Immerhin kenne ich die vor uns liegende Strecke, habe sie im Sommer zuletzt geskippert, dazu in den letzten 2 Jahren über ein Dutzend Mal die Biskaya überquert, in beide Richtungen, auch im Spätherbst. Ich war die ganze Saison unterwegs. Dieser Job sollte eigentlich schon bald beendet sein, um Zeit zu haben für Menschen, die ich zuletzt kaum gesehen habe.
Wir stechen in See. Martin klappt die Rümpfe aus. Sie gleiten in ihre Form, rucken am Ende fühlbar ein. Sie werden verspannt und gesichert. Dazwischen haben sich die begehbaren Trampoline wie von Zauberhand aufgefaltet. Jetzt werden die Backstagen durchgesetzt, so findet der hohe Mast seinen Halt. Martin legt den Finger auf den Knopf der Elektrowinsch und heißt das mächtige Großsegel auf. Die Winsch beginnt zu ächzen, der Performance-Lappen samt Squaretop ist oben. Ein Windhauch. Es fängt an zu gluckern am Heck. Wir rauschen aus der Flensburger Förde hinaus.
Als es dunkel wird liegt Schleimünde querab. Ein Marineschiff kommt uns entgegen, sonst ist hier niemand mehr. Wir gehen erstmals in den Wachplan. Eben hatte ich noch damit gerechnet, Kiel im Morgengrauen zu erreichen, aber mit 12 Knoten Speed sieht es gleich viel näher aus.
Beim Einbiegen in die Kieler Förde müssen wir höher an den Westwind gehen , laufen über sieben Knoten bei sechs Knoten Wind. Gegen ein Uhr nachts stehen wir vor der Friedrichsorter Enge, machen bald vor der Schleuse zum Nord-Ostsee-Kanal fest. Kaum noch Boote am Tiessenkai. Im Sommer muss man hier um diese Zeit ins Päckchen gehen, wir gehen ein paar Stunden schlafen.
Dienstag, 10.Oktober
Früh am Morgen kassiert uns der Hafenmeister im strömenden Regen ab. Wir motoren durch den Nord-Ostsee-Kanal. Es bleibt regnerisch, der Südwest bläst einem ins Gesicht. Hinter Rendsburg kommt uns die „Sarah“ entgegen, eine alte englische Lady, die ich erst im März von Amsterdam nach Lanzarote gesegelt habe. Auf den Kanaren ist sie wieder verkauft worden und der neue Eigner hat sie verrückterweise an die Ostsee zurück beordert. Am Ruder steht Tim, mit dem zusammen ich die Sigma 362 runterbrachte, und bei dem sich auf der Rücktour halbe Dramen abgespielt haben müssen: Nach dem Abbergen seines verletzten Mitseglers durch einen Helikopter nördlich von Madeira ist er alleine im schweren Wetter bis Brest gesegelt.
Ich blicke der Sigma hinterher und überlege, ob sie nicht – trotz ihres Alters – viel geeigneter wäre für die vor uns liegende Tour. Ich habe ja keine Ahnung, wie der Tri auf Welle und Wind reagieren wird, und bleibe skeptisch. Martin scheint schon ein paar Erfahrungen gesammelt zu haben, aber schweres Wetter hat er damit auch noch nicht erlebt. Das Internet weiß zu diesem Thema leider nur sehr wenig. Es gibt weder Erfahrungsberichte noch Videos. Die Werft behauptet zwar, das Schiff sei „absolut hochseetüchtig“; es habe ja schließlich Kategorie „A“ für „weltweite Fahrt“, aber die Werft ist in diesem Fall auch der Händler: Man sollte ihren Aussagen mit Skepsis begegnen. Ich habe Martin im Sommer zugesichert, dass wir sein Schiff im Oktober in drei Wochen nach Gran Canaria runter bekommen. Da habe ich wohl auch mehr als Unternehmer gesprochen – und muss es jetzt als Skipper ausbaden.
In Brunsbüttel ist zunächst einmal wieder Schluss, wegen heftiger Westwinde. Ich nehme den Zug nach Hamburg. Martin hat Gelegenheit sich mit seinen Bedienungsanleitungen zu beschäftigen und als Auflockerung, das Schleusenmuseum zu besichtigen. Mit Holger, unserem dritten Crewmitglied bespreche ich täglich unsere Aussichten am Telefon. Die deutschen Windenergiebetreiber verzeichnen in diesen Tagen eine Höchstertragsmenge – leider mit Wind aus der falschen Richtung.
Samstag, 14.Oktober
Es tut sich ein Wetterfenster auf, mit dem wir es zumindest bis in die Niederlande schaffen könnten. Ich verhole den Tri mit Martin nach Cuxhaven. Holger reist an und am späten Abend stechen wir in See. Als wir die Elbe verlassen, setzten wir Segel. Holger ist auch noch nie auf einem Tri gefahren, man merkt ihm die Skepsis an. Doch es läuft wie am Schnürchen: Mit Südwind und flachem Wasser rauschen wir nach Westen. Die Nacht in der Küstenverkehrszone ist ruhig. Wir gehen Einzelwachen, wechseln uns alle 3 Stunden ab.
Sonntag, 15.Oktober 2017
Am nächsten Morgen taucht hinter uns das hohe Rigg einer Rennyacht auf: Auf dem AIS stellen wir fest, dass es die Pogo 2 der Segelschule Sailing Island ist. Mit dem Fernglas können wir die Crew auf der hohen Kante erkennen. Wir rechnen damit, von ihr überholt zu werden, aber als wir nach einer Weile wieder nach achtern blicken, ist die Pogo keinen Meter näher gekommen. Später hat sich der Abstand eher noch vergrößert. Irgendwann biegt sie ab, verschwindet in der Ems. Leider haben sich unsere Aussichten wieder verschlechtert. Ab der Insel Vlieland müssen wir mit 6 Beaufort von vorn und entsprechendem Seegang rechnen. Wir entscheiden uns in das Watt reinzugehen, um über die „Staande Mastroute“ und das IJsselmeer nach Amsterdam zu kommen. Wir überqueren das Seegatt und machen am Abend im Hafen von Lauwersoog neben einem Katamaran fest. Während wir die Leinen klarieren, sieht uns das Eignerpärchen auf die Finger. Irgendwann sagt die junge Frau sagt zu mir:
„We know you…!“
Ich nicke ungläubig. Ich erkenne sie wieder. Es sind Ilona und Franz aus Leeuwarden, die ich vor drei Jahren auf Teneriffa getroffen habe. Dort waren sie wegen eines Motorschadens mit ihrer Yacht „Omweg“ vor der Küste der Insel auf den Felsen havariert. Sie hatten damals sogar noch bei mir an Bord übernachtet. Nun hat uns die See wieder zusammengeführt. Wie klein die Welt manchmal ist.
Montag,16.Oktober 2016
Am nächsten Morgen schleusen wir ins Lauwersmeer, tuckern mit eingeklappten Schwimmern durch Friesland, werden von Radfahrern und Skatern überholt. Der Südwest weht uns entgegen, die Flügel der Windmühlen drehen sich.
Am Abend machen wir im Festungsgraben von Leeuwarden fest. Unfreiwillig wird Martin – im wirklichen Leben Arzt – zum Ersthelfer eines ins Wasser gefallenen Mannes. Er kämpft um sein Leben, schont sich nicht. Wir wissen nun, dass man sich auf Martin verlassen kann.
Dienstag, 17.Oktober
Am nächsten Tag erreichen wir Harlingen. Wir müssen warten, bis der Strom im Watt gen Süden läuft und machen längsseits an einem Traditionssegler fest. Ohne dass wir es mitbekommen bricht die Vorleine des 200 Tonnen-Schiffes. Holger, der mit einem unserer Festmacher auf das riesige Plattbodenschiff gewechselt ist, berichtet später, er habe einen dumpfen Knall gehört. Wie in Zeitlupe klappt das Schiff mit uns von der Pier ab, wird erst von seiner Spring gestoppt. Die sieht aber aus, als könnte auch sie jederzeit brechen, zumal der Hebel riesig ist. Hektisch klettern wir auf unseren Nachbarn rüber, schnappen uns eine Plastiktrosse, machen das Schiff wieder fest, bevor wir davon zerdrückt werden. Extremes Niedrigwasser durch den Starkwind im Wattenmeer war wohl der Hintergrund dieser aufregenden Aktion.
Mittwoch, 18. Oktober
Am nächsten Abend passieren wir Amsterdam, motoren durch den Noordzeekanaal bis IJmuiden. Der Wind hat auf Südost gedreht. Wir sind wieder auf der Nordsee, haben eine Riesentour durchs Binnenland gefahren. Hätten wir auf Borkum auf den Winddreher gewartet, stünden wir wahrscheinlich nur 50 Meilen weiter nördlich. Aber wann konnte ich je eine Crew bremsen, wenn Aussichten bestehen, dass man irgendwie weiter kommt?
Donnerstag, 19. Oktober
Südlich von Rotterdam. Bei glattem Wasser und konstantem Wind spielt der Tri seine Trümpfe aus. Leider dreht der Wind im Laufe des Tages wieder nach Südwest, das nächste Tief ist im Anmarsch. Hätten wir bloß schon die Straße von Dover hinter uns, dann könnte man an der Küste der Normandie nach Westen kreuzen! Am Nachmittag laufen wir in Oostende ein und akzeptieren, dass wir uns in Geduld üben müssen.
23.Oktober
Wir segeln nach Westen vor der belgischen Küste. Dieses Labyrinth aus Sandbänken wird mir immer ein Rätsel bleiben. Noch in Oostende habe ich versucht, dem Hafenmeister Tips für diese Ecke abzuluchsen, aber der hatte mich nur auf die Broers Bank verwiesen, wo es anscheinend öfter Probleme gibt. Navigatorisch muss ich mir also wieder selber helfen, zumal Holger und Martin hier noch nie waren. Die Flämischen Bänke zwingen einen zum Vorausschauen wie kein anderes Revier. Folgt man der falschen Rinne, kann diese schnell auf einer Sandbank enden und bei Welle und Strom zur Mausefalle werden. Man sollte sich also nur jene Rinnen suchen, die am Ende auch einen Ausweg haben.
Wir nähern uns der Straße von Dover. Es ist Nacht und regnet in Strömen. Der Wind weht mit 6-7 aus Südwest. Der Strom schiebt uns mit 3 Knoten gegen die Wellen an, es knallt und rumst im Gebälk.
Dienstag, 24.Oktober
Hinter Calais haben wir die Tide gegen uns. Das beruhigt die Wellen, aber wir laufen so gut wie keine Höhe mehr. Ohnehin ist die Dover Strait bei Gegenwind eine grausame Gegend für Segler. Die Verkehrswege der Großschifffahrt schränken den Raum stark ein. Wir motoren 20 Meilen stumpf gegen die Wellen an, können erst hinter Boulogne-Sur-Mer wieder kreuzen. Es regnet noch immer. Der Küstenfunk warnt mit einem Bulletin Meteorologique Special vor Starkwind mit Rafales – Sturmböen. Der luvwärtige Schwimmer bleibt in der Luft, der Mittelrumpf knallt in die Wellen, dass an Schlaf kaum zu denken ist. Martin hat sich in Oostende eine Erkältung eingefangen, er liegt im Vorschiff flach. Wir fragen uns, wie er das macht. Ich kippe unseren ursprünglichen Plan, der vorsah, diesen Schlag bis Cherbourg auszudehnen. Das Städtchen Dieppe rückt in den Fokus.
Am Nachmittag laufen wir erschöpft zwischen den Kalkklippen ein. Der Besuchersteg der Marina, der im Sommer voller Yachten war, ist verwaist. Der Tidenhub in Dieppe ist atemberaubend. Hinter uns testen Wissenschaftler der Firma IXBlue eine orangefarbene Drohne, die wie ein Mini-U-Boot aussieht.
Mittwoch 25. Oktober
Eigentlich war der Plan, vor dem Auslaufen am Morgen eben an der Tankstelle anzulegen und Diesel zu bunkern. Doch die Tankstelle ist außer Betrieb, ein angerufener Techniker soll erst in ein paar Stunden nach dem Rechten sehen.
So viel Zeit haben wir nicht, also schleppen wir Kanister von der nächsten Tankstelle. Nach schweißtreibendem Marsch gelingt das Auslaufen kurz nach Mittag. Kurs West.
Donnerstag, 26. Oktober
Wir wollten hier gar nicht halten, erreichen das Städtchen Cherbourg aber eben bevor die Tide ihre Richtung ändert. Es macht keinen Sinn, weiter zu fahren, am Cap de La Hague würden wir ohnehin auf der Stelle stehen. Ich laufe durchs Städtchen, entdecke ein Reiterstandbild Napoleons. Der Kaiser, auf einem Hengst sitzend. Der Gaul scheut, aber Napoleon zwingt ihn mit energischer Geste voran. Ich muss an unseren Törn denken. Einen Trimaran im Herbst zu den Kanaren segeln, ist das nicht auch ein bisschen Zwang? Fühlt der sich nicht in einer beheizten Halle an der Ostsee viel wohler?
Am Abend segeln wir mit 12 Knoten durch das Alderney Race, oder das Raz Blanchard, wie der Franzose sagt. Es sind Strudel im Wasser zu sehen.
Die Sonne versinkt bei Guernsey im Meer. Erstmalig ist Dünung zu spüren, wir haben Tuchfühlung mit dem Atlantik. Wir fangen einen Wetterbericht auf, der andeutet, dass sich über der Biskaya ein Hoch festigt. Sollten wir am Ende auch mal Glück mit dem Wetter haben?
Freitag, 27.Oktober 2017
Die Rollreffanlage der Genua macht Ärger. Wir kriegen das Segel nicht weg. Wir stellen fest, dass es an einem Bügel liegt, der sich gelöst hat. Typisch neues Schiff. Mit etwas Geduld können wir es beheben.
Wir passieren den Chenal Du Four, laufen am Abend in Brest ein. Wir drängeln uns in eine bretonische Kneipe und merken, dass wir Musik, Menschen und Gerüche nicht mehr gewohnt sind, trinken lieber vor der Tür ein Guinness.
Samstag, 28.Oktober
In der Marina du Château treffen wir andere Crews, die nach Süden wollen. Ich spreche mit Peder aus Trondheim, Skipper einer Bavaria 49, der mit der Familie in die Karibik segelt, ohne jeden Zeitdruck. Im Gegensatz zu ihm muss sich David von der Österreichischen Yacht „Godspeed“, einer X-40, beeilen: Das Schiff ist ebenfalls für die ARC gemeldet und sollte in 2 Wochen auf den Kanaren sein.
Wir schauen uns die Wetterlage an: Wie häufig bei Hochdruck über dem Golf soll es nördlich von A Coruña zu Starkwindfeldern kommen. Der Wetterbericht sagt dort in ein paar Tagen 7-8 Beaufort aus Osten vorher.
Als die Nacht kommt laufen wir aus und überholen Peders Familie mit der Bavaria auf der Höhe von Ouessant, oder Ushant, wie der Engländer sagt. Auf dem AIS sehen wir, dass es noch andere Yachten gibt, die sich auf den Weg über die Biskaya begeben. Endlich machen wir Strecke. Der Tri liebt raume Kurse. In der zweiten Nacht dreht der Wind übers Heck auf Nordost und flaut zwischendurch ab, was bei uns kurz Verwirrung auslöst. Zudem gibt es eine gespenstische Begegnung mit dem Trimaran „Pir 2“, der uns mitten in einem Segel-Bergemanöver bedenklich nahe kommt. Kopfschüttelnd sehen Holger und ich der Heckleuchte nach. Zwei Trimarane, mitten auf der Biskaya, Ende Oktober, die nachts fast kollidieren. Es gibt Dinge, die gibt es gar nicht.
Sonntag, 29.Oktober 2017
Am nächsten Tag schickt uns Thomas, der uns wettertechnisch aus der Heimat berät, ein Update via Satellit. Es bleibt wie angekündigt: Der Wind soll im Süden der Bucht zunehmen.
Wir segeln schräg die Wellen hinab. Nach einigen rauschenden Abfahrten mit über 20 Knoten gehen wir ins 2. Reff. Längst steckt das Schott im Niedergang, denn der Tri fährt in einer Art Kippschwingung: Er saust die Welle hinab, flitzt durchs Tal und wird erst durch die vor ihm laufende Welle gebremst, bleibt dann fast stehen. Manchmal rauscht er aber auch weiter, wenn er schnell genug war, dann aber ziemlich unkontrolliert. Wir versuchen nicht zu schnell die Wellen hinab zu sausen, aber auch nicht zu langsam, damit wir nicht von hinten gewaschen werden. Es kommt wohl auf die richtige Tuchgröße an. Außerdem überlässt man das Ruder lieber nicht gänzlich dem Autopiloten, um im Falle des Verschneidens noch reagieren zu können. Richtig entspannt ist so eine Fahrweise natürlich nicht. Besonders die Freiwache horcht auf, wenn der Tri mal wieder losschießt, was man am Aufheulen des Hydrogenerators hören kann.
Montag, 30.Oktober 2017
Bei 6-7 Windstärken und 3 Meter Welle nähern wir uns der Küste Galiciens, laufen erschöpft hinter die Felsen bei A Coruña. 52 Stunden hat die Überquerung der Biskaya gedauert.
Dienstag, 31.Oktober
Am nächsten Tag steht die Umsegelung des Kaps Fisterre mit achterlichen Winden an. Wir hatten den Gennaker auf der Dragonfly bisher noch gar nicht gesetzt und tüftlen erstmal aus, wie das hier genau funktioniert. Bald segeln wir bei einer achterlichen Brise acht Knoten Speed downwind, rauschen um das Kap, während Delfine zwischen den Rümpfen spielen.
Mittwoch, 1.November
Leider ist schon abzusehen, dass wir in den nächsten Tagen nicht weiter nach Süden kommen werden. Das Hoch verabschiedet sich. In den Morgenstunden knüppeln wir wieder gegen Südwind an. Es schlägt, wenn der Mittelrumpf des Tris eine Welle abbekommt. Über Stunden sind das eine Menge Schläge. Danach gibt es keine zwei Meinungen mehr. So etwas kann man diesem Schiff auf Dauer nicht antun. Wir schießen durch den Canal Norte in den Schutz der Ria de Vigo und machen am Morgen vor den Hinterlassenschaften einer riesigen Halloweenparty fest. Da der Südwind mindestens 3 Tage anhalten wird, entscheiden wir, dass wir uns auseinander sortieren müssen. Zwar ist das Klima innerhalb der Crew bislang gut, aber das Leben auf der winzigen Yacht war zu dritt doch ziemlich anstrengend. Besonders für Holger, der es freiwillig auf sich genommen hat, im Salon zu schlafen. Auch ich habe nur einen Verschlag mit einem Vorhang davor. Selbst Martin hatte sein Separee im Vorschiff häufig gar nicht nutzen können, weil er dort nur herum gerollt ist. Er hatte dann Zuflucht in der Koje des jeweils Wachhabenden genommen.
Der Rezeptionist im Hotel Nautica erkennt mich wieder: Ich war doch vor 2 Jahren schon mal da, für 5 Tage! Stimmts? Stimmt…! Holger und ich checken in nebeneinander liegenden Zimmern ein und genießen die Ruhe, jeder für sich.
Freitag, 3. November
Ausgeruht sind wir wieder an Bord und lauern darauf, dass sich das Tief verzieht und wir freie Bahn nach Süden bekommen. Am frühen Abend beobachten wir die AIS-Signale südwärts zielender Yachten, die bei 4-5 Windstärken und Regen gegen den Wind ankreuzen. Holger schlägt vor, es ihnen gleichzutun; ab Sonntag soll der Nordwind an der Costa de la Muerte schließlich mit 8 Beaufort aus Nord wehen. Man hätte dann schon ein Stück Weges gen Cascais geschafft und könnte gegebenenfalls wieder unter Land kommen, falls es zu heftig wird. Ich gebe zu bedenken, dass die anderen nicht mit einem Trimaran unterwegs sind. Unsere Gegenwindstrecke auf der Straße von Dover habe ich noch in schlimmer Erinnerung. Und mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, sich da draußen in der Nacht zu verausgaben, obwohl der Wind morgen ohnehin auf Nord drehen soll. Zudem haben wir uns heute den halben Tag mit Wartung und Reisevorbereitungen befasst und sind müde. Keine guten Voraussetzung, um mit kleiner Crew in eine Nachtfahrt zu starten. Für nächstes Mal nehme ich mir vor, bei einer geplanten Abfahrt am Abend viele Dinge schon am Vortag zu erledigen, damit man ausgeruhter an den Start gehen kann. Für heute entscheide ich, dass wir die Nacht zum Schlafen nutzen werden und erst am Morgen in See stechen.
Samstag, 4. November
Facebook-Eintrag von diesem Tag:
„Wir laufen gerade aus der Bucht von Vigo aus. Kurs Süd. Für morgen sind laut Deutschem Wetterdienst bis zu acht Beaufort und viereinhalb Meter Welle angesagt. Wir haben jede Menge Respekt, sehen die nächsten Stunden aber auch als Testlauf für die Passage rüber zu den Kanaren. Da wäre bei unserer Ankunft mit noch mehr Wind zu rechnen…Unser Problem ist, dass wir nun schon über 1.000 Meilen mit diesem Schiff hinter uns haben, aber niemand kennen, (inklusive des World Wide Web) der uns sagen kann, wie so ein Trimaran bei 35 Knoten achterlichem Wind und 4-5 Meter hoher Welle segelt. Deshalb jetzt erstmal der Testlauf. Wenn es in den nächsten 36 Stunden zu grenzwertig wird, segeln wir zurück unter Land – entweder nach Cascais oder an die Algarve. Wenn es gut läuft, ziehen wir durch bis Las Palmas. Mal sehen…“
Schon am Nachmittag schießt der Windmesser auf über 35 Knoten. Die Höhe der Wellen liegt um die 3 Meter, Tendenz steigend. Der Autopilot kann den Kurs halten, rotiert aber pausenlos. Der Hydrogenerator lädt im Dauerbetrieb, sein Jaulton schwillt auf und ab. Wir gehen Einzelwachen. Die Freiwache sieht zu, dass sie sich ausruht; wir wissen ja, dass es noch mehr werden soll. Holger und ich sind in diesem Jahr schon mal in stürmischen Wind hineingefahren: Das war auf der Nordsee, nachts mit einer Dehler 47. Da war ordentlich Druck im Tuch und es war anstrengend, aber es lief alles wie geplant.
Um 22:30 Uhr setze ich über meinen Inreach-Explorer eine Botschaft via Satellit an unseren Wettermann Thomas ab:
„N‘Abend! Böen bis 39 Knoten, aber im Mittel 31 Knoten. Boot läuft ok. Autopilot braucht viel Strom, aber Hydrogenerator liefert.“
Thomas antwortet wenig später:
„Hi, das ist mehr als in der Vorhersage. Ab morgen Mittag wieder abnehmend. Ich schicke einen Bericht per Mail ans Iridium-Handy!“
Wir kommen gut durch die Nacht. Der Wind bleibt im Mittel mit sieben Beaufort über der angesagten Stärke. Die Wellen bauen sich stetig auf. Das Schott steckt im Niedergang. Die Genua ist bis auf ein paar Quadratmeter eingerollt, dennoch werden wir immer wieder auf ungewollte Abfahrten geschickt.
Sonntag, 5.November
Als die Sonne aufgeht stehen wir auf der Breite von Nazarè. Südlich vor uns liegen die Berlengas, eine Inselgruppe bei Peniche. An ruhigen Tagen kann man eine Passage östlich der Inseln nehmen, nahe dem Festland. Daran ist heute nicht zu denken; dort ist es nur 35 Meter tief und die Wellen sind jetzt schon hoch. Selbst westlich der Berlengas, wo unser geplanter Kurs verläuft, fällt die Tiefe innerhalb weniger Meilen von ein paar tausend Meter auf nur noch 60 Meter. Weiter draußen wäre sicher ruhigeres, tieferes Wasser, aber damit wären wir mitten auf den Verkehrswegen der Großschifffahrt und außerdem weit von Cascais entfernt, dem nächsten möglichen Hafen. 60 Meter Tiefe – ich frage mich, ob das eine Rolle spielt. Nach vielen Jahren auf dem Wasser ist mir immer noch nicht ganz klar, welche Tiefe sich bei Starkwind wie auf das Wellenbild auswirkt. Wenn ich kann, mache ich bei Starkwind einen Bogen um jedes Flach, nur geht es hier leider nicht.
Gegen Mittag sitze ich bei geschlossenem Schott auf der Back und blicke achteraus in die Wellenberge. Der Ruderautomat lenkt, die Freiwache ist unter Deck.
Aus dem Nichts bricht eine Welle ins Cockpit, setzt alles unter Wasser, drückt die Rettungsinsel, die wir am Heck gestaut haben, aus ihrer Position. Ein paar hundert Liter Salzwasser schwappen umher, laufen gurgelnd wieder ab. Im Boot heißt es, dass das Wasser durch das geschlossene Schott bis in den Salon geschossen sei. Meine Koje, die sich hinter dem Niedergang befindet, ist nass. Ich blicke auf den Plotter. Der Meeresboden ist von 1000 Meter auf 80 Meter angestiegen. Wir sind über die Kante des Festlandschelfs gefahren. Der Wind legt weiter zu. Ich löse den Wachplan auf; wir werden jetzt nicht bis Gran Canaria durchsegeln, sondern unsere Haut retten und die 60 Meilen bis Cascais ablaufen – leider nicht sehr weit von der Küste entfernt. Wellen kommen in der Größe von Häusern in dichter Folge. Immer wieder schießt der Tri die Kämme hinab. Holgers Augen gehen zum Speedometer. „23 Knoten!“, ruft er. Wenn man bei so einer Abfahrt unter Deck durch die Fluchtluke blickt, sieht man das Wasser vorbeischießen wie bei einer Wildwasserfahrt. Wir sind längst zum Handsteuern übergegangen, um nicht zu verschneiden und die Wellen seitlich abzubekommen. Es geschieht trotzdem, als ich steuere. Manche Wellen sind über 5 Meter hoch. Das ist mir eigentlich nicht fremd. Auf einer Atlantiküberquerung vor 3 Jahren hatten wir eine Woche lang 7-8 Beaufort und mehr, die Wellen wurden immer größer. Doch da waren sie lang und brachen an ihren Gipfeln, hier steilen sie sich zu Wänden auf, die hinter uns einstürzen. Stunde um Stunde fahren wir Kämme herunter und wieder hinauf. Mitunter werden wir von brechenden Wellen überspült, das Cockpit ist jedenfalls schön sauber. Wenn eine Welle quer kommt und unter dem Boot durchläuft, schießen Fontänen durch die Trampoline zwischen den Schwimmern in die Höhe wie Geysire.
Obwohl sich eine gewisse Routine einstellt, lässt sich der Gedanke, dass wir hier Scheitern könnten nicht abschütteln. Die Bedingungen werden nicht besser. Ich hoffe, dass es gut geht, werde ganz demütig. Jeder würde hier demütig, man wird sich seiner Kleinheit bewusst. Man betet, dass Wind und Wellen nicht zunehmen und das Maß des Beherrschbaren überschreiten, und dass auch sonst nichts passiert, was die Lage verschärfen könnte: Kein Reißen von irgendwas, keine Probleme mit dem Ruder. Wer sollte einem hier draußen zu Hilfe kommen?
Als es dämmert sind es noch zwei Stunden bis Cascais. Wir zählen die Meilen. Delfine tauchen auf, kommen näher, spielen zwischen den Rümpfen, ringen uns ein Lächeln ab. Wir beratschlagen über die korrekte Annäherung an das Kap Raso. Holger und Martin wollen nur nicht vorbei laufen. Aber wo die Tiefe abnimmt, nimmt die Höhe der Wellen zu. Wir einigen uns darauf, sich dem Kap in einem Bogen zu nähern und gehen etwas höher an den Wind. Meile um Meile warten wir, dass sich die Bedingungen entspannen. Aber der Wind nimmt noch zu. Immer wieder schnellt der Windmesser gen 40 Knoten. Die Welle kommt jetzt auch noch aus zwei Richtungen, wird chaotischer. Wir wechseln den Rudergänger im Viertelstundentakt, um sicher zu gehen, dass keiner in einen Trott verfällt und einen Fehler macht. Ein zweiter Mann sitzt im Cockpit, blickt achteraus, warnt, wenn sich ein Brecher auftürmt. Die Sonne des wolkenlosen Himmels versinkt im Meer. Die Dämmerung vergeht. Der Leuchturm am Kap Raso blitzt 3 mal weiß, alle 9 Sekunden. Schwach sind Häuser und Straßen am Ufer zu sehen, aber die Sterne verschlagen uns den Atem. Was ist das? Der Seegang hat abgenommen… Das Kap hält seine schützende Hand über uns. Ein riesiger, gelber Mond geht auf über Cascais.
Montag, 6. November, querab von Kap Espichel
Schweren Herzens blicken wir der FLO nach, einem nagelneuen Nautitech 541 – Katamaran, der sich auf direktem Kurs Richtung Kanaren von uns entfernt. Ich hatte mich noch vor 2 Stunden am Steg mit dem Skipper unterhalten, einem Bretonen namens Simon Le Brenn. Er ist mit zwei Amerikanern in die Karibik unterwegs. Auch sie waren am Vortag von Norden gekommen, hatten aber nicht die geringste Not verspürt. Der schwere Katamaran war gemütlich die Wellen hinunter geschaukelt und hatte nicht ein einziges Mal zu verschneiden gedroht. In so einem Ding würden wir jetzt auch die Kanaren anpeilen, wo laut Wetterbericht bei der Ankunft mit 8 Beaufort und 5-6 Meter Wellen zu rechnen ist. Tun wir aber nicht; ich habe entschieden, dass wir mit unserem 4 Tonnen-Leichtgewicht jetzt nicht direkt rüberfahren. Ich habe nicht vergessen, dass wir in 6 Tagen in Las Palmas sein müssen und es eng wird für die 600-700 Meilen. Holger ist ein zuverlässiger Typ, ihm scheint es nicht leicht zu fallen, dass wir den Termin reißen könnten. Er erinnerte mich heute erneut daran, dass ich zugesagt hatte, es in 3 Wochen zu schaffen. Das habe ich getan, und es war aus heutiger Sicht vorschnell, aber es ändert nun nichts an der Tatsache, dass auf dem Meer auch andere Dinge zählen als Termine, und wir deshalb zunächst nach Süden an die Algarve fahren werden, bis die Zeit für den letzten Schlag gekommen ist.
Am Abend werden wir von einer hohen Dünung aus Nordwest voran geschoben. Eine Brise bringt den Tri ins Laufen. Immer wieder sausen wir Wellentäler hinab, mit dreizehn vierzehn Knoten Speed. Das Plankton glitzert. Es ist wunderschön. Mitten in der Nacht bemerke ich, dass die Genua schlecht steht: Ich löse die Schot, versuche das Fall zu spannen, doch es geht nicht. Ich stelle fest, dass das Segel abgesackt ist, es hat gar keine Verbindung mehr zum Fall. Das hängt wahrscheinlich oben im Mast. Jemand muss es runter holen, am besten wenn das Boot ruhig liegt. Ich wecke Holger und Martin. Wir falten die Genua zusammen, zurren sie an die Reling. Gut, dass es uns nicht draußen passiert ist – oder gestern Nachmittag nordwestlich von Lissabon, als uns nur noch dieses Segel auf Kurs hielt.
Dienstag, 7. November
Nur unter Groß segeln wir um das Kap Sao Vicente, die Südwestecke der Iberischen Halbinsel. Ein paar Stunden später machen wir in Lagos fest, ziehen Martin mit dem Bootsmannsstuhl in den Mast. Er kommt grinsend mit dem Fall in der Hand wieder runter – es hatte sich nur der Schäkel geöffnet.
Wir studieren Wetterkarten, spielen alle Möglichkeiten durch, erwägen sogar einen Schlag nach Casablanca in Marokko, doch es ist sinnlos: Ein Azorenhoch schickt jede Menge Wind und Wellen in den Süden. Erst in ein paar Tagen sieht es nach einer Beruhigung aus.
Holger und ich werden ungewollt für mindestens 2 Tage zu Touristen. Martin beschäftigt sich mit den Sicherheitsauflagen der ARC-Rally. Er will so viele Punkte wie möglich abgehakt haben, wenn wir auf den Kanaren eintreffen. Eine Nachricht aus Las Palmas bringt Erleichterung: Wir können uns Zeit lassen, meldet die Rallyleitung von Worldcruising. Auch eine leicht verspätetet Ankunft nach dem 12. November schließt die Teilnahme an der ARC für die Flying Merlin nicht aus.
Zum Glück gibt es in Lagos einen Yachtausrüster mit einem guten Sortiment. Als Martin den Laden betritt, leuchten seine Augen wie bei der Bescherung. Er trägt volle Tüten mit Ausrüstung zum Schiff, und beginnt unverzüglich diese anzubringen und zu verstauen. Er hat leider keine Zeit für etwas anderes als die Yacht. Er hatte sich das ganze Projekt Bootskauf, Inbetriebnahme, Überführung auf die Kanaren und in die Karibik mit der ARC etwas einfacher vorgestellt. Er ist in Zugzwang geraten, aber er hält dem Druck stand und arbeitet ihn ab wie ein Schweizer Uhrwerk.
Ich ziehe ihn wieder in den Mast, um einen riesigen Radarreflektor anzubringen, so will es die ARC-Satzung. Während ich nach oben schaue, fallen mir hunderte Vögel auf, die in einer Spirale über der Stadt kreisen. Ich sichere das Fall und nehme mir das Fernglas zur Hand. Die Vögel haben weiße Köpfe und breite Schwingen. Es sind Gänsegeier, die hoch kreisen, ohne einen Flügelschlag. Auf einmal fliegen sie los, alle ziehen hinterher. Bald sind sie nicht mehr zu sehen. Von der Richtung her müssten sie nach Gibraltar fliegen.
Ich schlendere durch Lagos, diese quirlige, alte Seefahrerstadt, in der Touristen und Hippies aufeinander prallen. Ich wehre Koberer ab, die mir ausgerechnet eine Bootsafari verkaufen wollen, trinke Kaffee mit Jemma aus Folkestone, gehe schwimmen am Praia Dona Ana, südlich der Stadt. Das Meer ist kühl, aufgewühlt. Später lausche ich einem britischen Straßenmusiker, der aussieht wie der junge Jonny Depp und melancholische Lieder singt. Ich schreibe 17 Postkarten, als müsste ich vor der Überfahrt einen letzten Gruß an die Welt verschicken.
Uns erreicht eine weitere Nachricht aus Las Palmas, diesmal von Michael Wnuk, der mit seiner 17 Meter Aluyacht „Marlin“ eben eingetroffen ist. Er schreibt, dass wir froh sein können, jetzt nicht mit dem Trimaran dorthin unterwegs gewesen zu sein. 6 Meter hohe Wellen und 50 Knoten Wind hätten ihnen ganz schön zugesetzt. Wir sollen bei der Überfahrt nur vorsichtig sein. Ich bin erleichtert.
Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es eiskalt in Lagos. Der Nordwind bringt die Luft aus den Bergen mit, das Meer gleicht den Temperatursturz nicht aus, es ist wie in einer Wüste. Holger hat sich was mit dem Magen eingefangen. War es das Essen beim Inder gestern? Oder hat es mit der Anspannung zu tun? Wir sind schon über 3 Wochen unterwegs. Kaum Rückzugsmöglichkeiten, besonders als „Salonbewohner“. Dazu der ungewisse Verlauf des Törns. Es wird Zeit, dass diese Reise zu Ende geht, aber sie ist endlos. Ich war in diesem Jahr wohl schon auf zu vielen Törns.
Freitag, 10.November
Unser Wettermann gibt grünes Licht für die Abfahrt. Am Anfang wird es noch etwas rumpeln, schreibt Thomas, aber dann wird die Welle zurückgehen und ein moderater Nordostwind wird uns gen Kanaren befördern. Holger ist noch nicht ganz fit, fühlt sich aber in der Lage die Reise anzutreten. Martin kann es sowieso nicht mehr abwarten nach Las Palmas zu kommen, seine Freundin wartet dort schließlich schon seit Tagen auf ihn. Doch von ihr trennen uns noch 650 Meilen.
Wir stechen am Mittag in See. Der Windmesser zeigt schon wieder sechs Windstärken an. Der Tri schießt los. Holger ächzt und murmelt etwas von einem „ewigen Ritt auf der Rasierklinge“. In der ersten Nacht lassen uns die Bedingungen nicht unbedingt perfekt ruhen, aber es ist ok, wir kommen voran.
Samstag, 11.November
Am nächsten Tag geht es Holger besser. Der Wind legt sich, und die Wellen werden kleiner und weniger steil. Wir reffen aus, trimmen die Segel auf Schmetterling, lassen den Tri vor dem Wind laufen. Ich nehme das Mittagsbesteck, schieße mit dem Sextanten die Sonne, treffe unsere Position auf 11 Meilen. Der Tag vergeht zwischen Wachen und Freiwachen. Unsere Shorecrew funkt über Iridium den täglichen Wetterbericht und hat nichts Schlimmes: Die Lage bleibt entspannt. An der Küste Marokkos, vor Agadir, gibt es ein Starkwindfeld, aber dafür sind wir zu weit draußen. Wir fügen uns in die Verhältnisse, passen uns dem Rhythmus des Wachplans an.
Sonntag, 12.November
Ich erkläre Martin meine Methode zur Messung der Mittagsbreite und Länge mit dem Sextanten. Bald liegt sein Ergebnis vor: 4 Seemeilen Differenz zu unser Position. Ich freue mich, sitze im Salon und sehe auch Holger endlich wieder lachen. Ich spreche ihn darauf an, da bricht die Kritik aus ihm heraus. Es ist in den letzten Tagen nicht immer leicht gewesen, zwischen uns. Anscheinend haben wir einiges unterschiedlich aufgefasst. Der Termindruck und die Enge haben es nicht besser gemacht. Ich kenne das, es passiert auf Langfahrt. Wir sprechen uns aus, danach ist alles wieder im grünen Bereich.
Dienstag, 14.November
Bei Sonnenaufgang ist Gran Canaria zu sehen. Es ist warm. Noch unterwegs packen wir unsere Siebensachen zusammen. Einen Monat nachdem wir die Elbe verlassen haben, laufen wir in den Hafen von Las Palmas ein. Wir klappen die Schwimmer ein, lassen uns vom Marinero zum Liegeplatz eskortieren. Martins Freundin steht an der Pier. Es ist schön, die beiden zusammen zu sehen. Ihnen bleibt ja auch nicht viel Zeit; in 5 Tagen startet die ARC und da wird sie nicht mit an Bord sein können. Martin wird die Reise über den Teich mit Freunden antreten.
Holger und ich werden demnächst nach Hause fliegen. Nächstes Mal werde ich genauer darüber nachdenken, bevor ich zusage, dass man ein Schiff im Herbst mal eben auf die Kanaren bringen kann. Die Natur ist ja größer als der Mensch. Das erfährt man nirgendwo besser als mit einer kleinen Yacht auf dem Meer.