super yacht Überführung

Juni-Juli 2022: Yachtüberführung: CNB 86 von Newport (USA) nach Marseilles (FR): 4.250 Seemeilen

von Rainer Holtorff

Die Überführung einer kleinen Superyacht zu organisieren – mit einem Vorlauf von einer guten Woche – bringt Schwung ins Leben. Lest hier wie es uns dabei ergangen ist:

USA

Mittwoch, 15. Juni 2022

Zunächst flog eine Vorhut der Fünfer-Crew – Niklas, Stephan und ich – nach Massachusetts. Von Boston-Logan ging es mit dem Uber nach Portsmouth, Rhode Island, wo die CNB 86 „Capricho II“ zwischen Hinkleys Boatyard und Dyers Island als einzige Yacht in der Dunkelheit ankerte.

Erwartet wurden wir bereits vom Eigner, Nikolaj, einem freundlichen Dänen, der schon früh am nächsten Morgen mit seiner Erklärungsrunde begann. Bereits mittags musste er die Yacht ja auch schon verlassen, um seinen Flug nach Europa anzutreten. Wir versuchten uns alles zu merken, was er über dieses komplexe Schiff erzählte, und ließen zur Sicherheit eine Kamera mitlaufen. Bevor er aufbrach, fuhren wir mit ihm noch einmal zu Hinkleys Boatyard rüber, um Diesel und Wasser zu bunkern. Es bediente ein kugelrunder Tankwart, der uns fragte, woher wir denn eigentlich kämen. Er sagte dann, dass er selbst lange in Europa gelebt habe, genauer in Palma, wo er „Boat Captain“ einer Rennyacht von Hasso Plattner gewesen sei. Als wir durchblicken ließen, dass wir uns wegen des aufziehenden Tiefs um die uns noch unbekannte Yacht sorgten, antwortete er mit tiefstem Ami-Slang:

„You want dockspace?!? I can get you dockspace! Just let me make some phone calls!!”

Während der Diesel in den Tank lief, telefonierte er. Zwischendurch warf er ein, dass es noch nicht geklappt habe, er aber noch einige Nummern in Petto hätte: Zum Beispiel einen Liegeplatz in Newport.

„Der kostet doch aber 1000 Dollar die Nacht – für 86 Fuß!“, warf unser Eigner ein.

„O.k. – so you don’t want that – I can also find you space for free! You just have to make a donation!”

Am Ende nützte es nichts – wir mussten als einziges Schiff vor dem Hafen ankern, waren nun ohne Eigner an Bord und direkt dem andringenden Tief mit Wind, Regen und Gewitter ausgesetzt. Slippt der Anker, muss man auf dieser Yacht erstmal den Generator anstellen, das Bugstrahlruder, die Hydraulik-PTO (Power Take Off) und schließlich die Hauptmaschine starten. Erst dann kann man beginnen, die Kette aufzuholen, am besten mit Funkverbindung zueinander, damit man sich über die Distanz bei Wind überhaupt hört. Mal eben geht hier leider gar nichts…

Donnerstag 16.Juni 22

Wir arbeiteten uns ein: Studierten Manuals, probierten aus, setzten nach einem Gewitter einen neuen Anker. Obwohl wir nicht im berühmten Newport lagen, bekamen wir auch bei Hinkleys einiges mit. Zum Beispiel, dass sich einige Crews fieberhaft auf das bevorstehende Newport-Bermuda Race vorbereiteten – die älteste amerikanische Langstreckenregatta mit einer Distanz von 630 Meilen.

Niklas, unser Stift (28), Geologe, hatte vor gut 10 Jahren ein Schuljahr in den USA verbracht. Am Abend kam sein damaliger Gastbruder Brandon rum, der nun in Boston als Reporter arbeitet. Wir aßen im einzigen Restaurant weit und breit, dem „Gulf Stream – Bar and Grill“. Es gab „Lobster Roll“. Ich lud auf Bordkasse ein, staunte aber nicht schlecht: 145 Dollar für diesen am Campingtisch servierten Imbiss! Ich legte nur 10 Dollar Trinkgeld drauf. Die Kellnerin, eben noch lustig, zischte zornig:

„Was there anything not right with the service??!“

Brandon erklärte ihr, dass ich keine Ahnung von den Regeln hätte, da ich ja Europäer sei. Ich legte sofort weiteres Trinkgeld drauf, aber sie hörte einfach nicht  auf  zu schimpfen.

Am Abend erreichten uns Nicola und Michael, und damit war die Crew komplett. Nicola war noch bis Anfang des Jahres Purserin bei der Lufthansa gewesen und hatte sogar schon mal unter Segeln den Pazifik überquert. Erst kürzlich war sie mit uns quer durchs Mittelmeer gesegelt. Und Michael, Zahnarzt im Unruhestand, war unter anderem vor drei Jahren mit mir von Rhode Island mit einem Kat nach Europa gestartet.

 

Anker auf!

Gemeinsam nahmen wir die Yacht in Betrieb. Verlegten sie vorsichtig um 10 Meilen nach Newport an eine Mooring-Boje. Lernten uns kennen. Kümmerten uns  um die Verpflegung für bis zu 4 Wochen auf dem Atlantik. Wir wussten ja nicht, ob wir die Azoren überhaupt anlaufen würden, also brauchten wir genug Vorräte bis zum europäischen Festland. Michael und ich kannten Supermärkte und Ausrüster noch vom letzten Besuch. Und wir alle arbeiteten uns immer weiter in die Technik ein, nahmen mitunter Rücksprache mit dem Eigner, der wieder in Kopenhagen war.

 

20.06.22, Montag

Eine halbe Woche nach unserer Ankunft slippten wir die Leinen und liefen aus der Narraganset Bay aus. Eigentlich hatten wir erst einen Probeschlag nach Marthas Vineyard geplant, aber weil vor der Küste mit einem Sturmtief zu rechnen war, wollten wir lieber gleich nach Osten verschwinden und unterwegs alles ausprobieren.

Vorsichtig setzten wir zum ersten Mal das Groß, wohlwissend, dass bei den Kräften, die bei 40m Masthöhe wirken, kleine Fehler schnell große Wirkungen haben können. Alles lief problemlos, und so befanden wir uns schon bald im Wachrhythmus, sahen in der Ferne Nantucket verschwinden und hatten die erste Nacht von vielen vor uns. Ich war als Skipper wachfrei gesetzt und weiß noch, dass ich vor Erschöpfung einfach umfiel. Die letzten Tage waren doch ziemlich anstrengend gewesen.

Leider stellten wir schon am Abend fest, dass der Autopilot seinen Kurs nicht hielt: Wir starteten ihn neu, er arbeitete eine Zeitlang, aber dann piepte er und fiel aus. Wir suchten den Fehler an der Steuerung, setzten das System zurück, schlugen im Handbuch nach, was es noch sein konnte. Nach Mitternacht schwante mir, dass wir dem Problem mit bordeigenen Mitteln nicht Herr werden würden. Hatte der Eigner nicht auch von einem leckenden Ruderschaft erzählt? Dort, wo der Motor des Piloten saß? Ich riss das Ruder herum, ging auf Gegenkurs. Wir waren schon 75 Meilen weg vom Land, aber die Aussicht, dieses Schiff  über tausende Meilen von Hand auf Kurs halten zu müssen hatte doch wenig Verlockendes.

Stephan erschien zu seiner Wache und begann die Hochseeangel auszubringen. Ich fragte ihn, ob er sonst keine Sorgen habe. Als er mich verwundert ansah, deutete ich auf den Kompass. Erst jetzt begriff er: Wir liefen ja West, nicht Ost…!

Wir untersuchten das System genauer, banden per Satellit auch den Eigner mit ein, der mit Vorschlägen kam. Am Ende setzten wir den Motor des Autopiloten – den Sprocket Drive – direkt unter Strom. Er bewegte sich nicht, war definitiv kaputt. Der immer noch freundliche Däne versuchte gar nicht erst, uns davon zu überzeugen, ohne Ruderautomaten über den Atlantik zu segeln. Er versicherte uns stattdessen, dass er alles in seinen Kräften Stehende tun würde, um uns in kürzester Zeit einen neuen Drive nach Newport zu schicken. Zu den Versuchen, den Autopilot zu retten hatte sich da noch ein anderes Problem gesellt: Wir liefen seit Stunden unter Maschine. An einem Display war uns aufgefallen, dass die vollgeladenen Lithium-Ionenbatterien immer wärmer wurden. Solche Batterien können bei Überhitzung in Brand geraten. Nachdem wir bereits einen großen Topf Wasser kochten, um nur irgendwie Strom loszuwerden, schrieb der Eigner via Satellit, dass es da ja einen selbst gebastelten Schalter gebe, mit dem man die Zuladung beizeiten unterbrechen müsse. Den hatte er bei seiner schnellen Erklärungsrunde wohl vergessen.

Nach 29 Stunden-„Ausfahrt“, erreichten wir am Nachmittag wieder das Mooringbojenfeld vor Newport. Glücklicherweise war unsere Boje noch frei: direkt vor der Goat Island Marina. Zwei Hafenmeister halfen uns beim Festmachen. Wir waren natürlich erstmal durch, es war schließlich keine Kaffeefahrt gewesen, auf die wir aufgebrochen waren. Sicher vertäut überfiel uns tiefer Schlaf.

Der Sprocket Drive würde, schrieb der Eigner, leider erst in ein paar Tagen eintreffen. Wir gewöhnten uns an den Gedanken, hier in Newport noch eine Weile an der Boje zu hängen. Es war ja auszuhalten für hafen-und bootsafine Menschen. In Newport segeln die schönsten Schiffe herum, und ihre Crews winken einem fröhlich zu.

Die Pest an Bord

Am nächsten Tag hörte man im Schiff jemanden husten. Unsere einzige Frau hatte sich anscheinend einen Schnupfen geholt. Ob sie einen Coronatest machen wolle, fragte ich halb im Scherz beim Frühstück. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Es sei in der Nacht auf See doch ziemlich frisch gewesen, sagte sie, dabei hätte sie sich wohl verkühlt. 

Als wir von Strand und Cliff Walk an Bord zurückkamen hatte sich Nicolas Befinden leider verschlechtert. Sie kam zum Testen unter Deck. Sobald die Flüssigkeit auf den Kontrollstreifen traf war mir klar, dass sie Corona-positiv war. Ich teilte es der Crew mit. Trotz möglicher Schwierigkeiten waren doch alle erleichtert, dass wir jetzt nicht 400 – 500 Meilen offshore segelten. So hatte die unfreiwillige Rückfahrt auch was Positives. Michael und ich durchlebten derweil ein Corona-Dejavu: Vor einem Jahr hatten uns die Behörden auf Sardinien auf einem Kat, mit dem wir schon in Richtung Emden abgelegt hatten, wegen Corona an Bord an die Kette gelegt. Ich überließ ihm, unserem Bordarzt, auch diesmal wieder die Krankheitsabwehr. Er isolierte die Patientin, besorgte Hygienemittel und gab Regeln für das Miteinander aus. Nicola wurde in ihre Kabine „gesperrt“ und wir anderen hielten Abstand. Jetzt war es doch gut, dass wir hier noch ein paar Tage auf den Autopilot-Motor warten würden.

Wir vier Männer testeten weiterhin negativ, weshalb wir beschlossen, dass es vertretbar war, dass wir weiterhin von Bord gingen. Ich hatte den Eigner noch nicht über den Krankheitsfall informiert, wollte erstmal warten, was passierte. Nicolas Zustand besserte sich dann recht schnell. Schon nach zwei Tagen war sie wieder an Deck zu sehen.

Schließlich kam der neue Autopilot-Motor als Paket in der Safe Harbour Marina an. Stephan, unser Chief, machte sich mit Niklas sogleich an den Einbau des Sprocket-Drive. Die Steuerung des Backbord-Ruders musste demontiert werden, das Zahnrad mit der Steuerkette des Ruders verbunden und das Ganze dann wieder auf Spannung gebracht werden, plus die Anschlüsse an 24 Volt.

Am Mittag des nächsten Tages war alles fertig. Wir beschlossen, es aber nicht zu übereilen. Wir würden noch einen letzten Covid-Test in 2 Tagen abwarten.

 

Zweiter Versuch

26. Juni 22

Eine Woche nach unserem letzten Versuch brachen wir wieder auf, mitsamt der positiven Nicola. Gegen Mittag verließen wir Newport, segelten  südlich von Marthas Wineyard und Nantucket, und gelangten mit frischen Winden hinaus auf die hohe See. Wir probierten die Segel und Reffs aus und kamen schnell nach Osten voran. Irgendwann wurden die Fischtrawler weniger, schließlich gab es gar keine mehr, nur noch vereinzelte Frachter, die kreuz und quer auf dem Atlantik liefen. Apropos Trawler: Gleich in den ersten Tagen brachten wir einen Gelbflossentuna rein und machten den Eisschrank voll.

 30.Juni 2022, 400 Seemeilen östlich vom Festland

Wir versuchten gerade den Golfstrom zu „reiten“, als ein Tiefausläufer bei uns eintraf.  Der Wind drehte auf Südwest und nahm auf über 30 Knoten zu, die Yacht rumpelte mit 10, 11 Knoten die Wogen hinunter. Wir waren alle etwas baff, wie sehr man den Seegang trotz der Bootsgröße noch abbekam. Wir lernten das Schiff ja weiter kennen: Zum Beispiel als wir nun in der groben See zum ersten Mal gegen Wind und Welle anfuhren, um das dritte Reff einzubinden. Keine Sekunde darf der gewaltige Großbaum dabei ohne Zug sein, damit es nicht knallt.

30. Juni 22

Der Starkwind währte den ganzen Tag. Als es dunkel wurde ging die Front durch. Blitze zuckten. Es goss in Strömen, es folgte Rückseitenwetter mit Schauern und Sonne. Am nächsten Morgen war der Wind weg, doch die Wellen liefen noch nach und das schwere Schiff rollte von einem Bug auf den anderen wie ein Salondampfer. Erst einen Tag später beruhigte sich die See. Wir hatten einen Vorgeschmack bekommen, wie sich ein „richtiges“ Tief anfühlen könnte. Ich musste an den Uber-Fahrer in Newport denken: Als wir ihm erzählt hatten, dass wir über den Atlantik segeln würden, hatte er gemurmelt: „The sea knows no mercy…“. Ich hatte versucht, den Spruch nicht allzu ernst zu nehmen. Aber klar ist es gefährlich. Der erste Hurrikan war dieses Jahr schon durchgezogen, und die einzige Person, die ich in Newport je persönlich gekannt hatte – Britt Taylor – war hier draußen vor einem Jahr bei einer Überführung  über Bord gegangen. Trotz intensiver Suche der Küstenwache hatte man sie nie mehr gefunden. Und in diesem Jahr, zwei Wochen bevor wir ablegt hatten, war ziemlich genau dort, wo wir uns jetzt befanden, eine CNB 66 havariert, wobei das deutsche Eigner-Paar umgekommen war. Ihre tödlichen Verletzungen hatten sie durch eine Überforderung in schwerem Wetter erlitten. Das wussten wir da noch nicht, aber als ob wir es geahnt hätten, haben wir von Anfang an einen Gang herunter geschaltet. Wir wollten ja auch nichts kaputt machen. Eine so gut ausgerüstete und gewartete Yacht anvertraut zu bekommen ist ohnehin eine Verpflichtung. Bei uns lief alles nach Plan, allen ging es gut und sogar der Coronatest von Nicola war nun negativ.

Ein Schock, mitten auf dem Teich

Juli ’22, Sonntag, 40 ° 15 ‚ Nord und 46 ° 59 ‚ West

Am Vormittag sah es nach schwachem Wind aus. Seit Tagen hatten wir schon überlegt, wie wir leichte Winde parieren würden. Gestern hatten Stephan und ich uns deshalb den resigen Carbonbaum angeschaut und ein Ausbaumen der Genua besprochen. Heute war der Gennaker dran. Es konnte ja sein, dass wir ihn bald brauchen würden. Also wäre es doch besser, wenn wir dieses Segel zumindest schon mal angeschlagen und ausprobiert hätten.

All hands on Deck. Wir holten die Rolle aus der Vorpiek, schlugen sie am Spinnakerfall an, befestigten Schot und Furler, winschten den Kopf des Segels hoch zum Masttop, bis alles stramm war und entrollten das große, blaue Tuch.

Bald schlief der Wind ein, der Gennaker waberte im Seegang hin und her, ohne Druck aufzubauen. Wir beschlossen, ihn wieder wegzurollen und abzulassen.

Das Fall, an dem wir das Segel ablassen wollten gab aber nur einen Meter nach. Als wir heftiger daran zogen ging es noch mal etwas hinab, aber dann war Schluss. Wir versuchten es mit vereinten Kräften, schließlich mit Hilfe einer Winsch –  es bewegte sich nicht. Uns dämmerte, dass wir in Schwierigkeiten waren. Überlegungen, das Segel vorn aufgerollt bis zu den Azoren stehen zu lassen, wurden wieder verworfen. Bis zu wieviel Windstärken kann man sowas fahren? Ist man damit bei Wind nicht gleich seeuntüchtig? Viel zu gefährlich! Wir waren immerhin noch 800 Meilen vom nächsten Hafen entfernt…

Also musste einer hoch. Stephan, über 60 Lenze, erklärte sich bereit und ich nahm das Angebot dankend an. Wie es seine Art ist, bereitete er sich in Ruhe vor, stattete den Bootsmannsstuhl mit Werkzeug aus, nahm die Headsets in Betrieb. Gegen Mittag begannen wir ihn hochzuwinschen, auf den 40 m hohen Carbonmast.

Es war kein Wind. Die See aalglatt, vereinzelte Dünungswellen. Ich versuchte den Rumpf der Yacht auszurichten, so dass der Bug in die Wellen zeigte, und doch ließ es sich nicht verhindern, dass der Mast ins Pendeln kam. Stephan sicherte sich vor und nach jeder Saling mit Gurten, damit ihn die Ausschläge des Mastes nicht herumschleuderten. Dies alles brauchte Zeit. Meine Sorge galt der Zunahme von Wind und Wellen, sowie der Abnahme seiner Kräfte. Wie es ihm ging, wussten wir ja nicht. Die Headsets hatten nicht funktioniert.  Und das mitgenommene Handfunkgerät konnte er nicht benutzen; er hatte keine Hand frei. Allein von der zweiten zur vierten Saling brauchte er über eine halbe Stunde. Ich rechnete jederzeit damit, dass er die Aktion abbrechen würde, weil es  zu anstrengend für ihn wurde, dem Schwanken des Mastes etwas entgegenzusetzen.

 

Michael und Niklas bedienten die Winsch für das Hauptfall an dem Stephan hing, Nicola führte das Genuafall als Sicherungsleine nach. Ich versuchte weiterhin, die Yacht auf Kurs zu legen. Nach einer gefühlten Ewigkeit war Stephan oben. Wir konnten nur ahnen, was er da tat. Als wir hochriefen, kam es leise zurück, dass ihn jedes Rufen anstrenge. Ich sah alle möglichen Horrorszenarien: Wenn er dort ohnmächtig würde, hätten wir kein Fall mehr, um ihn herunter zu bekommen. Wir würden dann eine Leiche am Masttop fahren. Oder – wenn er unverrichteter Dinge herunterkam war das zwar tröstlicher, aber doch schlecht für das weitere Vorankommen. Auch für möglich hielt ich, dass bei dem ganzen Hin- und Her, eine Hilfsleine die Genua blockieren könnte. Wir waren einfach verdammt weit draußen. Die restliche Crew meinte, dass er es schon hinbekommen werde. Sie versuchten mich zu beruhigen. Ich war der am wenigsten Zuversichtliche von allen, aber ich war es am Ende ja auch, der die Verantwortung trug. Und der Stoßgebete murmelte, denn die Sache zog sich. Wolken zogen am Himmel auf. Nahm der Seegang zu? Auffrischender Wind war ja angesagt. Konnte er das Fall da oben nicht einfach durchschneiden? Das Segel würde mitsamt des schweren Stahlbeschlags auf das Deck krachen und bestimmt etwas kaputt machen, aber das war doch besser, als ewiges Warten. Er war nun schon über eine Stunde da oben!

Nicola, Niklas und Michael harrten in der brennenden Sonne aus. Sie horchten darauf, ob der Mann im Mast-Top höher oder tiefer wollte, und handelten entsprechend. Niemand entfernte sich von seinem Platz. 

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es Stephan, das blockierte Segel an ein anderes Fall zu binden. Wir konnten es ablassen und an Deck legen. Stefan begann den Abstieg, wieder durch Gurte um den Mast gesichert. Es ging nicht anders. Es gab an diesem riesigen schwankenden Mast einfach nichts zum Festhalten. Wenn er nicht aufpasste, konnte diese Aktion immer auch jetzt noch in einem Unfall enden.

Nach einer halben Stunde stand er wieder an Deck, mit zitternden Knien, gezeichnet von der Strapaze. Ich war dankbar und stolz auf diese zusammengewürfelte Truppe, die über Stunden gekämpft und das Unheil noch mal abgewendet hatte.

Flores

Sonntag 08. Juli 2022

Wir waren über Tage gut gesegelt. Mäßige Winde aus Süd hatten uns nicht nur Wärme, sondern auch gute Etmale beschert. Als wir noch 150 Meilen von der ersten Azoreninsel entfernt waren, gerieten wir in eine Hochdruckbrücke und der Wind verschwand. Beim Bergen des Großsegels fiel uns auf, dass einer der Mastrutscher gebrochen war. Wir beschlossen ihn bei Flores auszutauschen.

Wenn man so lange die See um sich hat, ist es schon ein seltsames Gefühl, eine Landmasse zu sehen. Von der Ferne kommend erinnerte Flores an einen Klumpen, der im Meer liegt. Aus der Nähe sah man grüne Täler, Wasserfälle und Felder, in Terrassen angelegt.

Wir liefen in eine Bucht ein und drifteten, um den Mastrutscher zu klarieren. Das aufgetuchte Segel musste angehoben und das kaputte Teil darunter ausgetauscht werden. Als wir es danach begutachteten, staunten wir nicht schlecht: Die Edelstahl-Schrauben sahen aus wie mit einem Schweißgerät bearbeitet, das Plastik geschmolzen. Das musste ein Blitz gewesen sein – hatte der Eigner nicht auch von einem schweren Gewitter erzählt, bevor wir angekommen waren?

Von Flores setzten wir am Nachmittag den Kurs nach Horta ab. Eigentlich sah es gut aus: Ein Nordostwind bis 20 Knoten sollte uns ohne Probleme in das Mekka der Atlantiksegler bringen. Die Nacht kam jedoch anders: Der Wind schwankte zwischen Flaute und Starkwind. Wir wollten Strecke machen und hatten uns fürs erste Reff im Groß entschieden. Das war aber in den Windlöchern zu wenig und in den Böen zu viel. Am Morgen waren wir müde und erschöpft, ich war in dieser Nacht bestimmt 8 Mal draußen gewesen.

Faial kam in Sicht. Die Vorfreude stieg mit jeder Meile, auch wenn mir klar war, dass der kräftige Nordostwind in den Hafen von Horta voll reinwehen würde. Keine guten Bedingungen um anzulegen. Es kam aber noch schlimmer. Als wir einbogen, sahen wir dass der Hafen völlig überfüllt war, alle Ankerplätze belegt. Unsere Funk-Anfrage an die Marina blieb unbeantwortet. Schweren Herzens entschied ich, den Nordwind zu nutzen, um weiter nach Ponta Delgada zu segeln, weitere 150 Meilen. Das war bitter; alle hatten sich ja auf Horta gefreut, aber nun setzten wir Segel und das machte gerade keine Freude mehr.

Am Abend lag der Kanal von Pico und São George achteraus. Die Nacht war dunkel und windig. Wir segelten im 2.Reff, immer wieder fielen Böen ein, aber es war besser als in der Nacht zuvor.

Gegen Morgen sahen wir die grünen Hänge von São Miguel. Wir segelten noch eine Weile unter Land, ehe wir das Groß wegnahmen und in die Marina von Ponta Delgada einliefen. Auch dort war niemand am Funk, also holten wir den hydraulischen Kiel auf und schoben uns vorsichtig an den einzigen Liegeplatz, von dem wir annahmen, dass er für unsere Größe passen könnte, direkt hinter einer Hylas 70. Der Skipper nahm die Heckleine an. Als wir fest waren, empfanden wir eine unbeschreibliche Erleichterung. Unbeschreiblich, weil man so was erlebt haben muss. Ein Liegeplatz mit Badeanstalt, Cafés und Restaurants um die Ecke. Den ganzen Tag über fühlte ich mich wie in einem Glückstaumel.

Endspurt

16. Juli 2022, 38° 24‘ Nord, 19 ° 03‘ West. Seit 2 Tagen auf See

4 Tage waren wir in Ponta Delgada geblieben. Ein Tief östlich der Azoren hatte zum Glück jeden früheren Aufbruch verhindert. Also schwammen wir in der Badeanstalt, besuchten Geschäfte und Restaurants, lernten andere Menschen kennen (Allie aus Annapolis, Marco aus Italien, Daphne aus Grenoble), und trafen Freunde, die dort leben (Birgit und ihre Kids) – ehe es Zeit wurde Abschied zu nehmen. Am Ende hatten wir noch ein Törn-Schild auf die Hafenmauer gepinselt. Ein ungeschriebenes Gesetz für abergläubige Stop-Over-Crews besagt ja, dass dies für die weitere Passage unverzichtbar ist.

Wir liefen aus, ließen den Kiel ab, gingen ins 2. Reff im Groß. Bei böigem Nordwind segelten wir unter Land, bis an das östliche Ende von São Miguel. Das Tief, das uns zuvor den Weg blockiert hatte, war nach Norden gewandert und sollte für die Passage nach Gibraltar erst nördlichen und dann westlichen Wind bringen.  Die Wettermodelle von Predictwind empfahlen uns die Azoren bis zum 39. Breitengrad nach Nordwesten zu verlassen, nach etwa 1 ½ Tage auf den Backbordbug zu gehen und nach Südosten zu laufen. Zunächst segelten wir so in den Kern des Tiefs hinein, mit allen Konsequenzen: Wolken, schlechte Sicht, Böen, Regen.

Am zweiten Tag erfolgte die Wende. Wende heißt hier übrigens zu dritt Hand anzulegen:

  • Etwas anluven, Backstag einholen.
  • Den Preventer mit 2 Mann lösen und einholen, an der Großschot befestigen.
  • Die Genua einholen, einer guckt, zwei Bedienen Winsch und Furler.
  • Die neue Leeschot der Genua um das Fall des Stagsegels tragen.
  • Autopilot aus. In die Wende gehen, Großschot und Preventer dichtholen.
  • Auf dem neuen Bug/Kurs Großschot und Preventer wieder fieren.
  • Preventer wieder nach vorne (eine Person) abmessen und dichtholen (zweite Person)
  • Genua wieder zu dritt unfurlen, winschen bis ganz draußen.

 

Mittwoch 20. Juli 2022, 100 Meilen westlich von Gibraltar

Nach dem Tief zwischen Azoren und Festland folgte eine kurze Flaute, ehe der Portugiesische Nordwind einsetzte. Zunächst moderat, dann kräftiger – und als wir uns dem Verkehrstrennungsgebiet von Sao Vicente näherten, mit bis zu 30 Knoten und drei Meter Welle. Schon war wieder richtig Druck im Tuch. Wir segelten, bis Faro etwa 60 Meilen nördlich von uns war. Versuchten, als wir in die Straße von Gibraltar einliefen, die Orca-Problematik auszublenden, und gelangten schließlich bei mäßiger Sicht, mitten in der Nacht, zum Ankerplatz vor La Linea, gleich neben Gibraltar. Das europäische Festland hatte uns wieder.

Der Törn war hier aber nicht zu Ende. Wir hatten ja versprochen das Schiff nach Frankreich zu bringen. Also holten wir den Anker bald wieder auf und segelten  bis westlich von Barcelona, in eine Ankerbucht, wo wir in das aufgeheizte Mittelmeer sprangen. Erst als der Mistral am nächsten Tag aufgab, machten wir uns auf die letzten 150 Meilen nach Marseille.

In der letzten Nacht auf dem Golf de Lion wussten wir längst, dass wir dieses Schiff vermissen würden. Und als ob das Schicksal es uns noch schwer machen wollte, war es besonders zauberhaft. Wir hatten ja einiges auf uns genommen, um nach einer flüchtigen Übergabe über den Atlantik zu segeln. Es hatte auch ein paar schwierige Momente gegeben, aber wir hatten uns immer weiter in Handling und Technik dieser Yacht eingearbeitet, und waren als Team zusammengewachsen.

Am Mittag liefen wir in Marseille ein. Das Boot der Hafenmeisterei führte uns zu unserem Liegeplatz, direkt vor dem Rathaus. Bald hatten wir alles aufgeklart. Die Seesäcke lagen an Deck. Als Nikolaj, der Eigner, sein Boot wiedersah, schien er für einen Moment etwas ungläubig. Als ob er daran gezweifelt hatte, dass er sein Schiff so unversehrt vorfinden würde – nach über 4000 Meilen. 

 

Überführung CNB 86 Newport (USA) – Marseilles(FR): 4.250 Seemeilen

Skipper: Rainer Holtorff

Co-Skipper: Michael Wahner

Chief: Stephan Lubisch

Nicola Semidei

Niklas Schaaf (bis Gibraltar)

Özlem Tekin  (ab Gibraltar)

 

Yacht: CNB 86, Baujahr 2009, Slup, hydraulischer Hubkiel von 2 auf 4 Meter.

 

Track of Delivery CNB 86 Newport – Marseilles, July 2022