Yachtüberführung Nordsee

von Rainer Holtorff

Neulich kam die Anfrage eines Hamburger Yachtmaklers rein: Eine Dehler 36 sollte kurzfristig überführt werden. Die Crew, die sich neben mir in aller Eile zusammenfand, bestand aus Marten, meinem Co-Skipper, sowie Raffael, einem Studenten, der nähere Bekanntschaft mit der Nordsee machen wollte.

Drei Tage später flogen wir über die Jütländische Ostseeküste gen Norden. Förden, Inseln, Nehrungen und Haffs leuchteten in der Frühlingsonne. Von oben sah das alles gut aus, doch der Gedanke drängte sich auf, dass wir jede einzelne Meile auf der noch kalten See würden zurück segeln müssen. Ohne Stewardess, die kommt, wenn man klingelt. Die Wetterlage war zumindest nicht aussichtslos: 1033 Hektopascal standen über der englischen Ostküste wie ein Kegelberg, um den sich die Luft auf der Nordsee drehte. Blieb zu hoffen, dass dieses Hoch stabil bleiben würde, um uns 800 Kilometer nach Süden zu schieben. Sicher gibt es bei einem mehrtägigen Törn mit einem unbekannten Boot und einer Crew, die noch nie miteinander gefahren ist, auch noch andere Unwägbarkeiten als das Wetter: Würden wir überhaupt miteinander klar kommen? Und vor allen Dingen: Würde die Yacht halten, was man uns von ihr versprochen hatte? 

Nach der Zwischenlandung in Oslo ging es schon los: Unser Moses wartete am Gepäckband vergeblich auf seine Tasche.

Wir sahen unseren Zeitplan gefährdet: Denn wenn es zu einer Verzögerung kam und wir auch nur einen Tag später lossegelten als geplant, würden wir, aufgrund der Winde, einfacher nach Schottland kommen als nach Hamburg. 

Wir flogen ohne Tasche weiter nach Stavanger. Unter uns Schneefelder, nicht nur auf den Bergen, auch in den Tälern.

Am Flughafen von Stavanger taucht die Tasche wieder auf.

In der Lobby wurden wir von einem Norweger angesprochen, der ein ausgewaschenes STATOIL-Basecap trug. Er hieß Henrik und war die Vertretung des bisherigen Eigners. 

Auf der Fahrt zum Schiff reichte er uns eine Liste, die der Eigner geschrieben hatte, eine Art Betriebsanleitung für das Schiff. Die Klarheit, in der diese Liste abgefasst war, stimmte mich optimistisch. Vielleicht hatte man uns über den Zustand des Schiffes wirklich keinen Bären aufgebunden.

 

Die Yacht lag in Sandnes, einer Kleinstadt, 15 Kilometer südlich von Stavanger. Um an sie heranzukommen, musste man einen Baumarkt umrunden und auf einem staubigen Parkplatz ein Stahlgitter aufschließen und zur Seite schieben. Auf den ersten Blick wirkte sie aufgeräumt und segelklar.

 

Nachdem wir Lebensmittel gebunkert hatten, dämmerte es bereits. Weil Henrik so ein netter Kerl war, fragte ich ihn, ob er am nächsten Tag nicht mit uns aufbrechen wolle, wir könnten an Bord noch jemanden gebrauchen. Er wehrte ab und sagte, dass ihn dies überhaupt nicht reize, er fürchte sich nämlich auf See. Ich fürchte mich nur an Land, erwiderte ich, und wir gaben uns zum Abschied die Hand.

 

Unser erster und letzter Abend in Norwegen: Im sonst eher verlassenen Stadtzentrum von Sandnes gab es eine Filiale von „Dolly Dimple“, einer Pizzeria, die Henrik uns empfohlen hatte. Auf dem Weg dorthin fiel uns eine Gruppe Teenager auf, die bei 5  Grad Celsius auf dem Grasboden einer Verkehrsinsel hockte, als sei dies eine Blumenwiese im Sommer. 

Wir waren die einzigen Gäste der Pizzeria. Der Kellner entpuppte sich als Deutsch sprechender Sarde, der uns sein Leid klagte, dass er es nicht leicht habe, zwischen all den Norwegern: Sie seien so verschlossen und hätten keinen Sinn für gutes Essen. Er servierte uns eine norwegische Pizza, die uns dennoch schmeckte, und wünschte uns eine gute Fahrt.

 

Am nächsten Morgen musste die Entscheidung getroffen werden, ob wir nun gleich ablegen würden oder nicht. Dies wollte ich davon abhängig machen, was der Seewetterbericht  meldete und wie der Zustand des Schiffes war. Der erste Eindruck war gut gewesen, aber wir hatten noch nicht genau hingesehen. Ein Törn über die Nordsee hat die Besonderheit, dass man bei Starkwind wenige bis keine Häfen anlaufen kann, weswegen die Technik schon o.k. sein sollte.

Rumpf, Rigg und Ruder machten einen guten Eindruck. Auch die Maschine schien gewartet zu sein. Die Inspektion der Rettungsinsel allerdings, war ein Jahrzehnt überfällig. Der Kasten, in dem sie lag, bestand nur noch aus zwei lose zusammengebundenen Schalen, die nicht mehr ganz aufeinander saßen. Eine Maus hätte sich darin ein schönes Nest bauen können. Auch Feuerlöscher und Rettungswesten hätten seit einem Jahrzehnt zum Check gemusst. Mit so einer Sicherheitsausrüstung würde ich zu keinem Hochseetrip aufbrechen dürfen. Entweder müsste ich die Mängel beseitigen lassen oder neue Sachen anschaffen. Allerdings – wäre ich immer streng nach Lehrbuch gegangen, hätte ich auf einige Aufträge verzichten müssen. Oft hatte sich etwas finden lassen, was nicht den Bestimmungen entsprach, selbst wenn Großkonzerne meine Auftraggeber waren. Am häufigsten waren die Yachten für die Vorhaben nicht ausreichend qualifiziert besetzt gewesen, weil es einfach zu teuer war, einen zweiten Mann zu bezahlen. Aber auch anderes: Inspektionen waren nicht erledigt worden, Seekarten zu alt, Gasanlagen diletantisch zusammengeschraubt, Funkstellen nicht amtlich registriert, berufsgenossenschaftliche Abnahmen nicht durchgeführt, zulässige Personenzahlen überschritten, Papiere nicht vollständig, Schrotflinten an Bord, und, und und. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, es war auch ein paar Mal vorgekommen, dass ich nach meiner Ankunft auf irgendeinem unbekannten Schiff, wenn mir der Zustand allzu abenteuerlich erschien, gleich wieder nach Hause gefahren war –  auf eigene Kosten.

In diesem Fall gab es nun also das Problem einer möglicherweise nicht funktionsfähigen Rettungsinsel. Ich dachte kurz nach, wobei mir verschiedene Bilder durch den Kopf gingen: Schwerer Sturm, eine Kollision, Feuer an Bord, kaltes Wasser, eine Verhandlung gegen mich vor dem Seegericht. Dennoch entschied ich mich, den Trip wegen der Rettungsinsel nicht aufzuschieben, falls die Crew keine Einwände hat. Zwar konnte ich mir eine Situation vorstellen, wo man so eine Entscheidung bitter bereut, aber nur aus Angst davor nun noch eine Woche oder länger auf den nächsten Nordwind warten? Oder den Makler anrufen und ihm erklären, dass man ganz schnell Geld braucht, um ausgerechnet bei einem norwegischen Yachtausrüster einkaufen zu gehen? Es gibt eben einen Unterschied zwischen Lehrbüchern und Wirklichkeit.

Ich besprach die Sache mit der Crew. Die beiden schienen kein Problem zu sehen. Also war dieser Punkt geklärt. Blieb nur noch die Frage, was die Meteorologen meldeten.

Der Deutsche Wetterdienst sah für das Skagerak nur mäßige Winde voraus. Laut Passageweather jedoch, einer Website, die auf Daten des amerikanischen Nationalen Wetterdienstes basiert, sollte es vor der norwegischen Küste am Abend und in der Nacht mit bis zu 37 Knoten von Nordnordwest wehen. Das sind gute 8 Beaufort. Das Gröbste sollte gegen Mitternacht wieder vorbei sein. Ich besprach auch dies mit der Crew: Wieder kein Problem.

 

Gegen 11 Uhr vormittags warfen wir die Leinen los. Der Nordwind hatte schon eingesetzt. Wir mussten in dem langen, offenen Bangavågen-Fjord noch gute 15 Meilen nach Norden motoren, ehe wir abfallen und segeln konnten – somit war Eile geboten. Eine Legerwallsituation vor der norwegischen Küste? Braucht kein Mensch.

 

Gegen Mittag passierten wir Stavanger. Eine in die Berge gewachsene Stadt, orangefarbene Riesenschlepper lagen an der Pier. Sogar eine Bohrinsel hatte man hierher verholt. Ich erinnerte mich an meinen letzten Besuch 2012, als ich mit der TOGNUM im Stadthafen gelegen hatte. Ein bisschen bedauerte ich nun schon, dass jetzt doch alles so schnell ging. Kaum in Norwegen angekommen, fuhren wir auch schon wieder davon.

 

Zwei Stunden später hatten wir Tungenes an Backbord, die Spitze der Halbinsel. Endlich konnten wir abfallen und Segel setzen. Der Wind hatte auf 20 Knoten aufgefrischt. Wir machten gute Fahrt unter Groß und Genua, als wir die letzten Scheren passierten und die See vor uns lag. Die Yacht tauchte in die Dünung ein. Bevor die Sonne unterging, mussten wir reffen; Angesichts des zu erwartenden stürmischen achterlichen Windes in der Nacht, nahmen wir das Groß ganz weg und liefen nur unter gereffter Genua nach Süden.

Es dauerte nicht lange, bis es noch windiger wurde. Die Dehler wiegt nur 6 Tonnen, deshalb wird man bei 3 Meter Welle ganz schön herumgeschubst. Der Nordwind brachte auch Kälte mit, aber was macht schon so ein bisschen Kälte, wenn man gutes Ölzeug hat?! Für die Wachen bildeten wir zwei Gruppen: Ich würde meine Wachen alleine verbringen. Alle 2 Stunden sollte es einen Wechsel geben. Wir würden uns gegenseitig rufen, falls etwas war. 

 

Um 23 Uhr zeigte das Barometer noch immer 1031 Hektopascal. Die See war unruhig. Alle Sterne draußen, nur ein paar Schiffe, weit weg.

 

Um 08 Uhr standen wir 84 Meilen westlich von Hirtshals in Dänemark und 65 von der Norwegischen Südwestecke entfernt. Laut den Wetterberichten, die ich gelesen hatte, hätte der Wind schon vor Stunden nachlassen müssen. Er hatte aber eher zugenommen und die Wellen höher und steiler gemacht.

Keinem von uns ging es besonders gut. Ich hatte mir noch vor der Abreise einen Infekt meines jüngsten Söhnchens aus der heimischen Kita eingepackt, den ich jetzt ausbaden musste. Es gab aber auch echte Seekrankheit an Bord.

 

Mittags waren es noch 180 Meilen nach Helgoland. Kein Gedanke daran, bei diesen Wellen einen anderen Hafen anzulaufen. Auch Esbjerg würde zu gefährlich sein. Manche Wellen waren 5 Meter und brachen hinter dem Heck. Zum Glück hatten wir jede Menge  Raum in Lee und so liefen wir gen Süden ab. Nur eine Flotte aus fünfzehn Hochseetrawlern geriet mir in meiner Wache in den Weg und musste umsegelt werden.

Gegen sechzehn Uhr begann der Wind nachzulassen – fast einen Tag später als es „Passageweather“ angesagt hatte. Bis hier waren wir ein Spielball von Wind und Wellen gewesen, angespannt und wachsam, nun konnten wir unseren Kurs wieder selbst bestimmen. Entspannung machte sich breit.

Die nächste Nacht wirkte beinahe lauschig. Mit sechs Knoten rauschten wir unter Vollzeug dahin.

Um 10:00 Uhr morgens am 23.04.15 standen wir 50 Seemeilen westlich von Sylt. Das Barometer war gefallen. Das Hoch verabschiedete sich. Blieb nur zu hoffen, dass uns nun nicht irgendein Südwind ärgern wollte.

Am späten Nachmittag passierten wir den Windpark Nordsee-Ost. Über Meilen nichts als Windräder, Versorgungsboote, Hubschrauber. Endlich kam Helgoland in Sicht. Wir steuerten die Insel von Norden her an und machten an der Ostkaje fest. Um am   Helgoländer Nachtleben teilzunehmen fehlte uns die Kraft: Wir fielen in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Mittag liefen wir in die Elbe ein. Wie zur Belohnung wurde es warm. Der Strom nahm uns mit: Cuxhafen, Brunsbüttel, Sankt Magarethen, Glückstadt.

Bei Sonnenuntergang banden wir die Dehler in Wedel fest und waren ganz zufrieden mit uns: 3 Männer, 400 Meilen, 3 1/2 Tage.

Auf der Fahrt nach Hause stand eine Bekannte neben mir in der Bahn und erkannte mich nicht, obwohl wir uns eigentlich kennen. Ich schieb es mal auf die See. Diese Wildnis verändert einen ja.