Wenn uns gestern morgen jemand gesagt hätte, dass wir die Straße von Messina heute nicht mehr erreichen würden, hätten wir ihm einen Vogel gezeigt. Jetzt würden wir ihn einen erfahrenen Seemann nennen, hier kann man lesen warum.

 

Die Nacht auf der Fahrt vom Kampanischen Archipel zur Straße von Messina war ruhig verlaufen. Die See hatte sich gelegt, zuletzt jede Kontur verloren. Bei Sonnenaufgang, noch 50 Meilen nördlich der Straße, setzte Gegenwind ein. Erst nur eine Kräuselung, dann Schaumkronen, später wuchsen die Wellen auf zwei Meter an. Gegen Mittag hatten sie dann schon drei Meter. Wenn der Rumpf der Cinderella eine brechende Welle traf, gab es einen Schlag. Gischt spritzte, der Schläge wurden es mehr. Wir hatten die Vorhersagen gesehen, wir wußten, dass nördlich von Messina bis zu 20 Knoten Gegenwind zu erwarten waren, westlich noch mehr als am Festland. Aus diesem Grund waren wir am letzten Abend einen östlichen Bogen gefahren, hatten dann aber erneut direkten Kurs genommen, als der Wind weg war.

Heute bewegte sich der Luftdruck keinen Milibar. Der Himmel blieb blau. Dennoch kam uns 20 Meilen vor der Straße Wind mit 48 Knoten entgegen. Das ist Sturmstärke, aber wir haben es nicht ernst genommen: Wir vertrauten auf das stäbige Schiff und die Vorhersagen. Es konnte doch kein wirkliches Problem geben, nur ein paar verirrte Böen, die aus der Straße heraus pfiffen und irgendwie ihren Weg zu uns fanden. Wir haben uns auf die zwei Tage in Messina gefreut, wo wir warten wollten, bis der Nordwind einsetzt, der uns rüber bringen würde nach Griechenland

Target Fixation heißt das Phänomen, das man jungen Verkehrspiloten abzutrainieren versucht, damit diese nicht um jeden Preis an Plänen festhalten und Menschenleben gefährden.

So eine Zielfixierung hatte anscheinend auch uns befallen. Denn selbst als durch die Luken des Vorschiffes schwallweise Wasser eindrang, weil die Dichtung dem Druck der das Deck flutenden Wellen nicht mehr stand hielt, räumten wir nur die Matratzen zur Seite, legten ein paar Handtücher aus, den Schalter der Bilgepumpe um und blieben auf Kurs.

Erst 10 Meilen vor der Straße schwante mir, dass der Tag ein böses Ende nehmen könnte, wenn wir die Zeichen jetzt nicht lasen. Es brauchte keine Überredung: So gern sie Messina besucht hätten, meine Mitstreiter sahen sofort ein, dass es besser war sich am Kalabrischen Ufer zu verkriechen.

 

Laut Seekarte gab es nicht viele Möglichkeiten. Keine größere Stadt, keine Huk – wir hielten auf eine aalglatte Küste zu. Sechs Meilen entfernt lag Gioia Tauro, ein Containerhafen, dessen Ladekräne man schon sehen konnte. Auf der Karte fand sich auch ein Becken für kleinere Boote. Keine verlockende Aussicht, aber da der Wind nicht nachgab war es uns nun egal.

Wir liefen hinter einem Frachter in den Vorhafen ein und fanden unser Becken hinter einer Steinschüttung, umgeben von Bauten, die wie DDR-Grenzgebäude aussahen. Mit einem Blick wurde uns klar, dass anlegen hier keinen Sinn machen würde. Es war viel zu eng und alle Liegeplätze waren von Motorbooten belegt.

Wir fuhren wieder raus auf die wogende See, hoffend, dass dieser Törn nicht zum Spießrutenlauf werden würde.

Aus der Straße von Messina pfiff es unverändert heraus. Nur in engem Abstand zum Ufer blieben wir verschont. Wir motorten weiter die Küste hinunter. Unsere nächste Hoffnung, der Hafen Palmi, zerschlug sich, als er in Sicht kam. Auch zu eng, dazu noch in Lee, die Welle lief hinein, eine Ansteuerung wäre zu riskant gewesen. Eine Gruppe davor liegender Felsen, bei ruhigem Wetter vielleicht als Ankerplatz zu gebrauchen, bot ebenfalls keinen Schutz.

Wir begannen uns mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass wir am Spann des italienischen Stiefels nichts mehr finden würden. Ein Blick auf die Karte sagte uns, dass der nächste sichere Hafen 30 Meilen in Lee lag, noch hinterm Kap Vaticano.

30 Meilen, die wir irgendwann auch wieder zurücksegeln würden. Es schien darauf hinauszulaufen, aber wir wollten noch nicht aufgeben. Wir fuhren weiter nach Süden.

Wir passierten die Betonmole des nächsten Hafens, hatten aber wenig Hoffnung auf geeigneten Schutz, zumal wir keinen einzigen Mast aufragen sahen. Wilfried bestand aber darauf, dass wir die Nase hinein stecken. 

Als wir um die Ecke bogen wurde es warm. Fischerboote lagen an Muringbojen mit den Hecks zur Pier. An der Landseite ragten Berge auf, bis in die Höhe bewachsen. Am Ufer standen Männer in Gruppen herum, einige angelten, Hobbysportler walkten die Mole ab. Ein Sträßchen, das von einem Berg herunter kam, endete hier. Es wäre uns recht gewesen, längsseits an einen Fischerkahn zu gehen. Wir fragten jemanden, der an Deck stand, aber der zeigte nur auf die andere Ecke des Hafens. Dort war eine blau angemalte Pier. Als wir näher kamen, stellten wir fest, dass es die Tankstelle des Hafens war, die Zapfsäulen mit Planen abgedeckt. Wir legten an und atmeten auf: 31 Stunden nach Ischia waren wir wieder fest und es war vollkommen still.

 

Der Ort, zu dem dieser Hafen gehörte, hieß Bagnara Calabra. Ich erwartete, dass uns jemand mit viel Theater verscheuchen würde, das habe ich in Italien schon erlebt. Doch niemand kam, auch nach zwei Stunden nicht. Das fühlte sich fast wie ein Wunder an, nach unserer kleinen Odyssee.

Ich ging los, um ein paar frische Lebensmittel zu besorgen. Im Hafen lag viel Zeugs rum. Ungeklärte Müllecken, Öllachen und kaputte Boote, die niemand mehr brauchte. In den Ort kam man über einen Hügel, auf dem ein aragonischer Wehrturm stand.

Das alte Bagnara Calabra liegt am Hang. Das neue ist in die Flächen zwischen Bergen und Strand gewachsen. Dort ist auch der Beton gescheiterter Bauprojekte zu sehen. Buden mit zerfetzten Fenstern und immer wieder Müll. Menschen, die viel Zeit haben, standen oder saßen in der Nachmittagssonne an der Uferstraße herum, zu zweit, zu dritt, ganze Familien, auch nach Geschlechtern getrennt. Ich schlenderte an ihnen vorbei und sie musterten mich aus dunklen Augen. Mir ging das Wort ’Ndrangheta durch den Kopf, vielleicht zu unrecht, aber nach bravem Bürgertum sah es hier wirklich nicht aus. Niemand, den ich ansprach, antwortete mir auf Englisch. Es kamen anscheinend keine Ausländer her. Ich hatte das Gefühl, im Vorstadtghetto einer Metropole gelandet zu sein, nur gab es die hier meilenweit nicht.

In der Nacht, allein im stockdunklen Fischerhafen. Es war mucksmäuschenstill. Ich fragte mich, ob die ’Ndrangheta sich für ausländische Segler interessierte. War da ein Geräusch? Da waren doch Schritte! Ich drehte mich um und schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen stand die Guardia Costiera an unserem Heck in Gestalt eines sechzigjährigen Mannes, Typ Amtsvorsteher, und seiner jungen Kollegin, beide in Uniform. Lothar begann mit ihnen zu plaudern. Ich war mir nicht sicher, ob er den ernst der Lage begriff – denn das Wetter hatte sich ja nicht geändert, der Wind pfiff noch immer aus der Stretto de Messina heraus. Der Beamte machte uns klar, dass dies kein Liegeplatz für Segelboote sei, und wir sofort zu verschwinden hätten, es gäbe in diesem Hafen nur Plätze für Fischer! 

Ich stammelte vom Kampf mit den Elementen und der Zuflucht, die wir brauchten und deutete zudem technische Probleme an. Wir erhielten Aufschub bis zum nächsten Tag.

Zwei Tage blieben wir in Bagnara Calabbra. Ich fand es super dort. Die Stille und der kleine Urwald hinter dem Hafen. Der ungeschminkte Einblick in die Welt des Mezzogiorno. Wir hätten dieses kalabrische Kaff doch nie freiwillig angelaufen, aber der Wind hatte uns hinein geweht. So ist es halt beim Segeln: „It brings you to places“, wie der Engländer sagt.